theatercombinat | 1/1999 – 12/2000 massakermykene «orestie» aischylos, «fatzer-fragment» bertolt brecht, 2 jahre proben, 15 veröffentlichungen zwischen 36 minuten und 36 stunden dauer im schlachthof st. marx, wien (a)

organisation des theatralen handels über die sprache

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  theatercombinat
MassakerMykene
Material 6/ I

24.11.99
meine sehnsucht ist ein anderes öffentliches kommunikationssystem, in dem man mit körpern arbeitet. mit körpern und sprache geschichten erzählt in einer anderen dramaturgie: der von assoziationen, von leibern, von leibern in räumen, in denen man kommunikation sonst nicht betrachtet - hinterfragt- gestaltet. die literatur gibt scheinbare linien von kontinuität, den ausgangspunkt für disperatheit: die bündelung von ansätzen über das sein - die gesellschaft, geschichten von persönlicher und kollektiver angst, von verlust, von liebe, von sehnen, von differenz, von krieg, von sexualität.
man ist und man gestaltet, sich, dadurch die anderen, ein aussen, gemeinsam den raum, das heißt die bedingungen für ein aussen, das sich in dem bewegt, mit angst, sehnen, verlust, differenz. dieses zusammentreffen hinterfragt, konfrontiert, die die das angebot machen mit sich - ihrer selbstverständlichkeit und den bedingungen ihres daseins, durch die anderen: wir machen ein angebot, die anderen repräsentieren ihr leben und ihre selbstverständlichkeiten. das verhältnis ist zunächst ein unverständnis, weil fremd, nur wir verstehen das was kommt, weil wir die regeln ein wenig kennen, weil wir uns länger darin bewegen. wir sind vom leben und unseren zwängen, von der literatur und unserer arbeit gestaltete gestalter.
die wirkungen des tuns sind für die, die es seit längerer zeit tun, im konflikt mit denen, die sich kurze, gestaltete zeit in ihm bewegen. der mitgestalter des spielraums, der besucher, liefert neues material. die größte wirkung ist, wenn verschiebungen sich zeigen, andere verhaltensschichten sichtbar werden, die nicht im privaten, sondern im öffentlichen raum offenbart werden, selbstverständnisse erschüttert werden der lang- und kurzzeitgestalter.
der weg dorthin braucht die übereinkunft, dass man daran arbeiten will.
ps: wenn ich über raum nachdenke, ist das wichtigste, wie man den raum der zuschauer organisiert und gestaltet. kein galeristisches schweifen, sondern genaue ordnungssysteme, die bedingungen für eingreifen und assoziationen sind.

01.03.00
zuschauer (das wort ist ungenau in unserem fall, habe aber kein treffenderes zu hand) wir, die dort draussen arbeiten, sind trainierte zuschauer, d.h. haben kondition und willen mehrere kilometer in den hallen zurückzulegen. ahnungen durch kenntnis der fragment-anordnungen wo sich spieler aufhalten könnten. der unvorbereitete besucher hat  wenig orientierungshilfen, dies ist der reiz und auch die schwierigkeit.
welche zeit braucht der besucher zur orientierung? wieviel zeit gibt er uns? (wie ist dies wieder abhängig von kälte, licht, akustik, konzentration der spieler und ihrer eigenen physischen verfassung? wie ist das analysierbar?) wie ist diese zeit genauer zu gestalten? auch für besucher muss man, wie für die spieler, den rahmen genauer  bestimmen. 
neues wort von edwina: zuschauer-akteur und akteur

06.03.00
in den szenischen anordnungen versuche ich raumkonstellationen vorzugeben, so dass sich das für mich wesentliche eines fragmentes physisch auf den zuschauer übertragen kann. eine räumliche gesamtordnung, die zum teil mit dem zuschauer agiert, ihm eine bestimmte rolle zuordnet oder ihn bewußt ausschliesst, ihn zum gegenüber macht, zum voyeur. die verhandelten texte bekommen so einen raumkörper (spieler und zuschauer), der die bedingungen der aufnahme (beim zuschauer) des stattfindenden verändert, ebenso wie der zuschauer das was stattfindet mitkonstruiert, verändert, über seine spannung, aufmerksamkeit , präsenz und position im raum, seine art der bewegung, in bezug zu den sich verändernden rahmenbedingungen.
die jeweilige situation ist nie nur das von den spielern gezeigte, sondern die gesamtsituation derer, die etwas "zeigen" und derer, die sich in dem bewegen. somit gibt es parts, lücken, die erst bei anwesenheit der zuschauer, durch die zuschauer gefüllt werden können.
die schwierigkeit ist für mich in dieser arbeit in diesen räumen die, dass durch die grösse und weite der hallen und plätze anordnungen, setzungen so unverbindlich erscheinen, da es so viele gelegenheiten gibt, ihnen auszuweichen.
in genf zum beispiel fixierten wir hocker auf dem boden, einzeln gestellt, über den theaterraum und die funktionsräume verteilt, so dass klar gesetzt war, der zuschauer müsse sich allein dem geschehen konfrontieren und sich nicht in ihm bekannten sozialen verbindungen schützen. der zuschauer musste auch den zuschauer betrachten, dadurch fand auch unter ihnen eine andere kommunikation statt: beobachtete beobachter, die akteure sind. im schlachthof fällt mir auf, dass wenn menschen in gruppen oder in paaren erscheinen und dies auch im schlachthof bleiben, sie für mich schwerer fassbar, bestimmbar sind, ich denke für sie ist es auch nicht so interessant, da eine einsame unmittelbarkeit im "da sein" nie eintritt, die voraussetzung ist, um in das spiel reinzugehen, dadurch dass man sich bewußt räumlich verhält und damit auch körperlich adressierbar wird für die spieler.

9.04.00
komposition: jedes fatzer fragment hat einen zum text entsprechenden vorgang, eine temperatur. a7 z.b.:    
"Die Kaumann Rosa             
                                           wird vergewaltigt
Kaumann
                                        Fresser und Pessimist
Büsching
fleischlich holt überall Bestes heraus heimtückisch"
a7 ist auf einen hallenbereich fixiert, der am wenigsten übersichtlich ist. holzlagerbereiche, müllablagerungen, kühlschränke, waagenhäuser, eine fensterfront mit galerie. die fragmentanordnung hat sich aus einer akustischen übung mit christian ofenbauer entwickelt: jeder spieler hat drei akustische Mittel: einen langen summton, kurze schreie, den text des fragments. die spieler sollen akustisch miteinander kommunizieren und körperlich sich zu dem fragment in bezug setzen.
sie müssen akustisch kommunizieren, da sie sich, aufgrund der unübersichtlichkeit dieses raumes, wenn sie sich über den gesamten bereich verteilen, nicht sehen können. zu der so gestalteten akustik ergeben sich kleinere intimere szenen miteinander und mit den zuschauern, die durch die den ganzen raum erfüllende akustik eingebettet sind.
die zuschauer sind hörender teil einer akustischen gesamtsituation. es wird ihnen nichts zentral dargeboten. sie müssen sich bewegen, suchen, erkunden, können jederzeit von einem spieler "überrascht" werden, akustisch sowie körperlich. so wird für sie die, meistens bedrohliche, situation konkret erfahrbar: jederzeit "angegriffen" werden zu können, etwas intimes zu beobachten, schreie von fern zu hören, nicht wissend woher sie genau kommen.
die lichtbedingungen verändern die wirkung dieses fragmentes: bei sonnenschein wirkt es häufig eher schön, elegisch, bei dunkelheit und unserem diffusen licht mit einzelnen lichtpunkten bedrohlich.
dieses fragment hat eine spezielle weitgespannte lauschende konzentration.
sind die spieler sehr äusserlich, ist dieses fragment meistens ein ruhe- und konzentrationspunkt, sind die zuschauer sehr passiv, ist dieses fragment, ob seines kurzen inhalts, seiner akustik, raumbenutzung und physis, eines, das die zuschauer aktiv werden lässt, auch einen erinnerungsraum schafft für vorgänge , die bereits geschehen sind.
die genaue plazierung dieses fragmentes in einer veröffentlichung hängt von meinem spezifischen interesse, einem "thema", innerhalb der jeweiligen veröffentlichung ab. ich wähle die fragmente in den veröffentlichungen und deren anordnung unterschiedlich aus. es hängt ab von der sichtbaren erwartung, konzentration und bewegung der zuschauer, die es zu irritieren, stimulieren und provozieren gilt. und dritter und genauso wichtiger punkt: von der verfassung, konzentration und koordination der spieler. meine wachheit und reaktionsfähigkeit mit dem zusammenwirken der beschriebenen drei faktoren bestimmt die qualität, stringenz und kommunikation der jeweiligen veröffentlichung

12.4.00    

 
1.) Proben

     RAUMbedingungen      +     inhalt und struktur    +    bedingungen      
                                                      des TEXTes                  der SPIELER 
                               vorgabe der improvisation +
                                     raumstruktur durch
                                                REGIE

    2.) Veröffentlichung

         spiel                   >>>>>>                spiel                              regie/ komposition/
SPIELER                <<<<<<          ZUSCHAUER                      KOORDINATION = 
            ^                                                               >>>>>>>>     vorgabe text = impro-
            ^                                                                                     visation + raumstruk-
            <<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<<     tur IM MOMENT
C.B.

    Über die Anwesenheit von Zuschauern
Grundsätzlich gehe ich davon aus, daß es kein "schlechtes" oder "gutes" Publikum gibt. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers ist dann hoch, wenn auch die Akteure konzentriert bei der Sache sind. Es gibt ein Wechselverhältnis zwischen der "Energie" der Spielenden und der des Publikums. Sind die Spieler nicht konzentriert in ihrem Spiel, kann man dies auch nicht vom Zuschauer erwarten. Dieser Zusammenhang besteht natürlich auch umgekehrt. Ein konzentrierter Zuschauer gibt dem Akteur die Möglichkeit, mit diesem zu agieren bzw. auf diesen zu reagieren. Von Zuschauern, die noch körperlich und geistig ausserhalb des Schlachthofs sind, geht kein oder für mich kaum ein Impuls aus, der dann verarbeitbar wäre.

Wie erkennt man als Akteur die geistige und physische Abwesenheit einer Gruppe?

1)         Zum einen durch seine/ ihre Positionierung im Raum: der ängstliche Zuschauer tritt vor allem mit noch anderen auf. Er kommt entweder gemeinsam mit Bekannten in den Schlachthof, oder schließt sich einem Haufen während des Spiels an. Er glaubt, indem er in einer Gruppenformation steht, geschützt zu sein. "Beschützt" in der Masse tritt er als ein "Anonymer" unter "Anonymen" auf. Schutz findet er auch, indem er sich hinter Abgrenzungen (Zäunen, Mauern etc.) versteckt. Er nimmt die Position des konventionellen Theaterbesuchers ein, erschreckt aber dann um so mehr, wenn er von einem oder mehreren Akteuren angesprochen bzw. angestossen wird. Die voyeuristische Position wurde erkannt und von dem Spielenden wahrgenommen. Er wird selbst zum betrachteten Objekt.
Viel schwieriger verhält es sich bei jenen Zuschauern, die sich an den Rändern des bespielten Feldes/ Raumes aufhalten. Denn zum einen muß man wohl als Zuschauer solche Außen- bzw. Seitenpositionen einnehmen, um den ganzen Ablauf sehen oder wahrnehmen zu können. Andererseits aber kann diese Position einem eine bestimmt Sicherheit geben um nicht in die Position "Teil des Dargestellten" zu kommen.

2)         Am deutlichsten zeigt sich für mich aber die fehlende Anwesenheit eines Zusehers durch die Art und Qualität seiner Gänge im Schlachthof. Der herumschlendernde, ziellos umherirrende, unruhige, haltungslose Gang eines Zusehers entpuppt ihn als Nichtanwesenden und es ist meist nur mehr eine Frage von Minuten, daß er den Schlachthof verlässt.

3) Ob ein Zuschauer konzentriert ist oder nicht, zeigt sich auch in seinem Gesichtsausdruck. Gerade in den Momenten, in denen man einem Zuschauer einen Text einzeln oder auch chorisch ins Gesicht spricht, merkt man, ob der Angesprochene da oder noch zuhause ist.  M. K.
Mein Verhältnis zum Zuschauer
Niemals kann ich mit einem Zuschauer die selbe Art der Spannung, die selbe Intensität haben wie mit einem anderen Spieler. Für mich ist es ein Gefühl des Ein- und Aussteigens. Das Agieren mit den Spielern wird unterbrochen vom halbprivaten Kommentieren mit dem Zuschauer. Ich serviere dem Zuschauer Bedeutungen, mache ihn durch mein Adressieren zu einer Figur, bediene mich seiner - und das will ich nicht.
Ich gehe davon aus, dass die Zuschauer bedient werden, etwas gezeigt bekommen wollen und sich selbst nicht als Teil des Ganzen sehen. Merken sie, dass sie Teil eines Vorgangs sind, blocken sie oft ab. Wie auf dem Ballhausplatz: es ist solange interessant und spannend, solange die Polizisten nicht merken was wir tun; denken sie, sie wissen was läuft, interessiert es sie nicht mehr. Bei uns auf dem Schlachthof glauben die Zuschauer aber von vornherein zu wissen was läuft, indem sie uns eindeutig als Spieler identifizieren.(durch die Kostüme)
Mich interessieren die Kollegen mehr, mit ihnen arbeite ich seit einem Jahr bei jedem Wetter, wieso soll ich mit irgendjemandem bei Sonnenschein, weil er gerade gut im Raum steht, arbeiten?
Was kann ich von einem Zuschauer wollen, ohne ihn zu bedienen, mich zu zeigen, zu spielen? Und spiele ich, wieso dann nicht gleich mit vierter Wand?
Wenn ein Spieler was mit einem Zuschauer hat - was auch immer (anspucken, zugehen, fallenlassen) man mit einem "Fremden" haben kann - verliere ich ihn, habe ich das Gefühl, ich warte ab bis dieses Zwei-Personen-Intermezzo beendet ist, damit dieser Spieler wieder das "Ganze" /als das ich uns andere Spieler begreife/ im Auge haben kann.
Das Gefühl des Abwartens bei Interaktionen mit Publikum ist bei Fatzer stärker als bei Orestie, wahrscheinlich deswegen, weil es vereinzelte Aktionen sind, die aus keinem chorischen Verbund entstehen, sondern persönliche Rettungs- und Anknüpfungsversuche, über die sich eine Gemeinsamkeit wiederherstellen soll. Ich habe aber den Verdacht, dass wir darüber die Mitspieler erst recht verlieren und sich das Geschehen nicht neu organisiert.
Beispiel A20:
Arno und ich nähern uns einander an - er hat einen männlichen Zuschauer/ ich zufälligerweise eine mir beigestellte Frau - er thematisiert seinen Zuschauer durch Blickkontakt als Vertrauten zu "dem Weib ans Fleisch greifen." - weitere Annäherung - ich nehme meine Zuschauerin wie eine Zuschauerin, beziehe sie nicht in unserer Spiel ein, ausser eben als Zuschauerin für den Kommentarteil "dies alles also in einer Szene" (wie sich die Textstruktur ändert, ändert sich auch die Beziehungsqualität zu unseren Zuschauern). Jetzt wo ich das aufschreibe, find ich's gut, doch während dessen stört mich diese scheinbare und nur distanzmässige Nähe zum Zuschauer (egal ob Freund oder Fremder), weil ich für mich das Gefühl habe, es stimmt nicht. Wir sind äußerlich/ körperlich viel näher als innerlich, das stört mich, aber ich will meinen Platz behaupten, mich nicht vom Zuschauer jagen lassen und mit ihm um Aufmerksamkeit konkurrieren, sondern will lieber, dass er geht.
Ich habe eine seltsame Scheu vor Nähe mit dem Zuschauer und ziehe mich dabei auf eine arrogante Haltung/ Position zurück, nämlich, dass ich sie nicht so nah will. Wie kann ich das thematisieren, ausser wegzurennen, oder sie wegzuschaffen?
Manche Beziehungen zu Zuschauern bleiben bestehen - der sich in A20 mit meinem Kollegen verbündet hat, ist mir vertrauter in einem anderen Fragment - unser Verhältnis ist geklärt. Aber muss es nicht bei jedem Fragment neu situativ geklärt werden?
Stehen die Zuschauer so wie beim letzten Orestiechor der Veröffentlichung am 06.02. gut auf dem Parkplatz, und zerreisst es die Gruppenbildung, so finde ich das Bild interessant, weiß aber nicht, was ich damit tun soll. Wodurch, außer durch Text-Adressieren, kann ich jemanden thematisieren? Durch eine räumliche Konstellation und dann? Kann ich ihn stehenlassen.
T. Z.

Stand April 2000



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