theatercombinat | 1/1999 – 12/2000 massakermykene «orestie» aischylos, «fatzer-fragment» bertolt brecht, 2 jahre proben, 15 veröffentlichungen zwischen 36 minuten und 36 stunden dauer im schlachthof st. marx, wien (a)

warum diese texte? ein gespräch zu fatzer

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  theatercombinat
MassakerMykene
Material 7

MassakerMykene Material 7 ist der Beginn, auf die oft gestellte Frage, warum wir diese beiden Texte - die Orestie und das Fatzer-Fragment -  bearbeiten, zu reagieren.
Jenseits oder über dramaturgische Erklärungen hinaus  - wie z.B. Fragen nach Geschichte(n) aus gesellschaftlichen Übergangszeiten oder der Stellung des Chors - gab und gibt es praktische Motive, diese Texte mit den theatralen Möglichkeiten unserer Zeit und mit unseren persönlichen Interessen zu konfrontieren - uns mit diesen Texten zu konfrontieren, im Wissen um deren Potential, nützliche Erfahrungen zu produzieren.
Teil eins - Erfahrungen mit dem Fatzer-Fragment. Ein Gespräch.
C.S.
Was ist das Fatzer-Fragment eigentlich? C.B.
Das Fatzer-Fragment ist Brechts Versuch zwischen 1926 und 31, interessanterweise zur Zeit und jenseits des Erfolgs der Dreigroschenoper, eine ganz andere Art von Stücktext zu entwickeln. Das Ganze ist nie vollendet worden. Es gab eine Ausgabe der Versuche, 1931, wo er selber einen Teil dieses Textes zusammengestellt hat, in der Perspektive auf eine szenische Brauchbarkeit. Darüber hinaus hat Brecht nicht mehr daran gearbeitet, ist aber komischerweise kurz vor seinem Tod wieder darauf zurückgekommen und hat diesen ominösen Satz geprägt, gemeinsam mit dem Brotladen-Fragment sei das Fatzer-Fragment "der höchste Standard technisch". Und es scheint immer noch offen zu sein, was damit wirklich gemeint wurde.
Das Ganze sind eigentlich Manuskript- und Typoskriptblätter, die ungeordnet im Bertolt-Brecht-Archiv vorliegen und die ob bestimmter Figurennamen oder inhaltlicher Bindungen dem Fatzerfragment zugeordnet werden. So kommen ca. 550 Blätter zusammen, z.T. handschriftlich, z.T. als Zettel hinzugeklebt, auch Serviettenfetzen oder natürlich auch getippte Seiten, die wie wirklich nachgetipptes Material aussehen und von denen unklar ist, wer das erstellt hat.
Ich bin darauf gestoßen, als ich 1995 am BE gearbeitet habe, da war das Fatzer-Fragment ständig präsent.
C.S.
Inwiefern?
C.B.
Das schwamm als Text so umher, es wurde in Gesprächen immer wieder mal auf Fatzer Bezug genommen.
C.S.
Auf das Fragment oder auf "Fatzer"?
C.B.
Auf das Fragment - obwohl, vielleicht doch eher auf Fatzer. Gleichzeitig hat die Aufführung von Heiner Müller stattgefunden.
C.S.
"Duell Traktor Fatzer" -
C.B.
Ja. Wo Müller aus dem Fragment bestimmte Passagen genommen hat, die dann z.T. repetitiv eingesetzt wurden - bestimmte Komplexe hat er immer wieder verwendet -
C.S.
- z.B. "Dass einmal etwas nicht im Sand verläuft..." -
C.B.
Der Text für diese Inszenierung ist praktisch wiederum eine Fragmentarisierung der Müller-Montage für die Hamburger Inszenierung von Karge/Langhoff 1978. [1]
Ich kannte diese Müller-Montage, von der ich einzelne Texte ziemlich spannend fand, aber durch die Fabellastigkeit, durch diese Heimkehrergeschichte aus dem Krieg, schien mir der Text zwar sprachlich stark aber nicht so zwingend. Obwohl immer wieder ein Diskurs darüber stattfand. Und es stimmt, es ist interessant, ob da vom Müller-Fatzer die Rede war oder von Brecht. Denn die wenigsten beziehen sich interessanterweise auf den Brecht-Fatzer. Dann kam 1997 als Band X der kommentierten Ausgabe die Fragmente-Ausgabe bei Suhrkamp heraus, u.a. eben das Fatzer-Fragment, und das war für mich eine ziemliche Entdeckung oder Erhellung. Hier wird der Versuch gemacht, jenseits einer Fabelkonstruktion das Textmaterial vorzustellen. Der Herausgeber ordnet das Material chronologisch über Arbeitszeiten, Arbeitsetappen, an denen Brecht daran gearbeitet hat, darüber ist die Grundordnung fixiert. D.h. es gibt eine erste bis fünfte Arbeitsphase, wobei die fünfte die von Brecht herausgegebene Versuche-Veröffentlichung ist.
Und das hat mich völlig umgehauen, als ich das gesehen habe, weil es jenseits von Fabel und Erklärbarkeiten wirklich Einsichten gibt in einen Schaffensprozess und dieser als Schreibprozess sichtbar wird, der, wenn man den durchschaut, zu diesem Grundthema - ja, was ist das - diesen Grundaspekten, die im Fatzer behandelt werden, immer wieder Varianten zeigt, es weiterentwickelt, abbrechen lässt, wieder fallen läßt. Das wird als Schreibprozess sichtbar. Das hat mich fasziniert. Auch weil für mich merkwürdigerweise etwas wie eine Kurzfassung vom Brechtschaffen darin ablesbar war. Ich bin ja in meiner Schullaufbahn extrem mit einem ganz bestimmten Brechtverständnis malträtiert worden, was sicher auch stark mit der DDR zusammenhing.
C.S.
Das heißt der Ernst-Busch-Laufbahn -
C.B.
Ja, mit der Ernst-Busch und einer ganz bestimmten Vorstellung von Brauchbarkeit und einer ganz bestimmten Brecht Rezeption. Was sicher auch geprägt wurde durch die Wekwerth-Jahre als Leiter des BE und dem, wie man Brecht zu spielen hatte. Das hat sich alles an den wirklich "szenisch brauchbaren" Texten orientiert. Und plötzlich war für mich dort ein völlig anderes Bild von Brecht zu sehen.
C.S.
Die Lehrstücke kamen auch nicht vor?
C.B.
Die waren ziemlich außen vor - mir sind die Lehrstücke in meiner Schullaufbahn nicht untergekommen. Ich bin erst nachträglich auf die Lehrstücke gestoßen und war eigentlich ziemlich erstaunt, was da für Dimensionen von Theaterentwürfen drinstecken. Was mich dann ziemlich schockiert hat, warum mir das alles entgangen ist oder warum im schulischen Zusammenhang das nie erörtert worden ist.
Und sagen wir, aus dieser Kenntnis heraus oder mit diesen Vorurteilen oder Geschultheiten Brecht gegenüber war ich dann eigentlich baff über dieses Fatzer-Fragment und völlig verstört. Verstört und fasziniert und sehr angezogen von der Stringenz, die die Texte für mich hatten. Und der zunächst völligen Unklärbarkeit, was da eigentlich abgeht.
C.S.
Was heißt das - einerseits Stringenz der Texte und andererseits völlige Unklärbarkeit?
C.B.
Weil es sich eigentlich kaum auf Lösungen oder ein Endergebnis bezieht.
C.S.
Und worin liegt die Stringenz?
C.B.
Die Stringenz liegt darin, dass die Texte einen permanent aufbauenden Charakter haben. Jede Zeile baut auf die nächste auf und sie gehen immer nach vorn. Sie haben eine unheimliche Dynamik in sich, die nie bebildert, sondern immer Haltung ist - und es gibt sonst keine Texte, wo mir das so begegnet ist. Was vielleicht am Anfang eine Art Ahnung war und sich dann über das Arbeiten daran auch so herausgestellt hat.
Und für mich haben aus dieser verschulten Kenntnis von Brecht auch die einzelnen Arbeitsphasen - obwohl er im ganzen  Fragment sprachlich experimentiert hat, also z.B. den Gestus der Lutherbibel oder asiatischer Parabeln oder Goethescher Verse zitiert, er sich also offensichtlich innerhalb bestimmter Sprechmuster ausprobiert hat - auch so eine Art Werkschau von Brecht repräsentiert.
Die erste Phase ist sehr knapp formuliert, aber doch noch sehr expressionistisch, sprachlich.
C.S.
Inwiefern expressionistisch - ich bin darüber erstaunt, du sprachst von Bilderlosigkeit -
C.B.
Z.B. "Die nicht verschlang die blutige Schlacht frisst der leichte Wind der Stadt vor die Woche um ist".
Da ist die Bildhaftigkeit in der Sprache noch drin.
C.S.
Ja. Ich dachte jetzt eher an die szenischen Entwürfe.
C.B.
Da gibt es nur ganz wenige in der ersten Arbeitsphase.
C.S.
Stimmt. Außer einem Entwurf für die Szene, die in der dritten Arbeitsphase als "B 30" wiederkommt.
C.B.
Ja. Aber z.B. ist der Mond in der ersten Szene noch ganz anders drin, als er dann später in der dritten in B 30 eingesetzt wird. Es ist sehr knapp in der Sprache, es erinnert an Trommeln in der Nacht, aber es hat noch diese Bildhaftigkeit.
In der zweiten Arbeitsphase geht es schon extrem auf eine szenische Anwendbarkeit, aber es ist noch so eine Art von Expressionismus - wobei das vielmehr in einen sprachlichen Gestus übergeht. Die Szenen haben einen sehr kurzatmigen, sehr rigiden Rhythmus, aber man hat bestimmte Wortmuster, die man von Brecht aus einer ganz bestimmten Zeit, z.B. Baal kennt - und die Fatzersicht ist keine besonders kritische am Anfang.
C.S.
Was meinst du mit Fatzersicht.
C.B.
Wie auf die Figur Fatzer geblickt wird, oder durch das, was er ihr in den Mund legt, scheint das eine extreme Projektionsfigur zu sein. Es scheint noch in einem Held-Antiheld-Modell zu funktionieren, bestimmte Projektionsmomente zu enthalten, was sich im Verlauf vollkommen auflöst. Hier wird eine mit sich zu identifizierende Figur bedient - auch vom Aufbau her. Wobei es immer wieder Bruchstücke gibt, die das stören, einzelne Chöre, die dann ganz anders verfahren, oder diese dubiose Szene mit den zwei Soldaten, die sprachlich über das Milieu arbeitet (B 16) - wobei in den szenischen Entwürfen das Milieu über die Knappheit immer fast abstrahiert bleibt. Das ist ganz interessant. Aber sonst funktioniert das durchaus noch mit einer Heldenidentifikation, dem sich dann auf diese Weise die anderen Figuren zuordnen. Vielleicht muss man sich das jetzt aber auch noch mal anschauen und neu beleuchten.
Was sich dann in der dritten Arbeitsphase vollkommen wandelt. Es gibt sehr widersprüchliche Entwürfe zur Fatzerfigur, die abstrahiert oder kritischer behandelt wird, andere Eigenschaften erhält, die sehr widersprüchlich sind. Als Problemfeld zwischen diesen fünf Personen kommt die Sexualität ins Spiel. Die Besitzfrage wird bearbeitet, im besonderen die Sexualität der Frau und die Interessenlage unter den Männern. Plötzlich stellt sich die Frage des Terrors, die Koch aufwirft, Fragen, welche Organisationsmodelle oder was für ein Organisationsdenken da in die Texte Einzug halten, wie Anarchie belegt wird, wie innerhalb dieses scheinbar unorganisierten Organismus, der sich in dem Haus von Kaumann einrichtet, Mehrheitsbeschlüsse Einzug halten. Es ist also eigentlich eine Art von Politisierungsvorgang, der natürlich Anbindungen hat an die Entwicklung der russischen Revolution und Anspielungen auf die Neue Ökonomische Politik - also von der radikalen Forderung nach Volkseigentum aus Einschränkungen gemacht werden hin zu einem gewissen geregelten Privatbesitz. Es kommt zur Einführung von Mehrheitsbeschlüssen, was eigentlich der Anfang vom Ende war. Es geht darum, wie Organisationsmodelle sich verändern, in denen auch die Fatzerfigur dann ganz anders oder viel kritischer erscheint - nicht mehr Identifikationsfigur, sondern zum Modell wird, das aber in keinster Weise fassbar wird, weil es ganz unterschiedliche Ausformungen hat. Fatzer, der mal wirklich Sachen provoziert oder auf den Punkt bringt, oder eine Gegenfigur wird, so dass die anderen Figuren viel plastischer erscheinen oder Positionen beziehen, die nicht mehr homogen sind.
Das anfangs angelegte Figurenbild, das Brecht auch immer wieder beschreibt, bricht auf und wird nicht fassbar in diesem Grundmoment, in dem man sich von einer Bewegung distanziert und versucht, eine eigene Organisation aufzubauen, die jenseits der gesellschaftlichen Normen stattfindet. Daraus wird ein unheimlich komprimiertes Abhandeln auch über eine Art von kommunistischer Ideologie.
C.S.
Und zugleich, das fällt mir mehr und mehr auf, entsteht eine merkwürdige Vorahnung vom Faschismus. Das völlig ambivalente Auftauchen der Figur des Massemenschen, die in der zweiten Arbeitsphase noch in "Fatzer erster Rede" ganz positiv besetzt ist -
C.B.
Als Bewegung -
C.S.
 Als Bewegung, ja, als etwas, was zunächst einfach nur freigesetzt wird und jenseits von Privatförmigkeit oder Zwängen "sich bewegt" - was dann aber höchst ambivalente Züge bekommt. Und manchmal erscheint es wie eine Vorahnung dessen, bzw. es hat sich, nicht nur auf der Straße, ja schon abgespielt, Ende der 20er Jahre.
C.B.
Die anfangs projizierte direkte Bedürfnisorientiertheit von Fatzer, den Ekel über bestimmte Vorgänge direkt zu formulieren, hat plötzlich andere Konsequenzen für die, die noch mit Fatzer sind. Als Umfeld für etwas oder als Organisation kriegt diese ganze Gruppe eine ganz andere Verteilung.
C.S.
Was meinst du mit Umfeld für etwas?
C.B.
Am Anfang ist man sich ja unsicher, ob nicht diese Nebenfiguren nur da sind, um die zentrale Figur zu bauen. Und das verschiebt sich zusehends. Ein Umfeld, das eine Hauptfigur wirken läßt, bekommt ganz andere Funktionen und sie werden viel ernster genommen in ihren möglichen Haltungen oder auch im Diskurs, was die Verschiebung von der Figur Fatzer zum Modell Fatzer betrifft. Das ist die dritte Arbeitsphase. In der gibt's aber eben nie Lösungen. Es werden bestimmte Fragestellungen sehr kurz und sehr prägnant skizziert. Interessant ist ja, dass hier der Vorwurf an Brecht, er hätte diesen Zwang zur Pointe, nicht mehr funktioniert - über die Häufung von Pointen und über die Zerrissenheit des Materials. Und ich denke, darin liegt eine große Qualität. Und du hast kaum Lösungsmodelle. Immer wieder den Versuch, Problemfelder zu skizzieren oder dem vielleicht auch Chöre entgegenzustellen.
C.S.
Kannst du diese Problemfelder vielleicht noch mal nennen? Einfach gefragt - wenn man versucht, die Fabel nachzuerzählen, dann ist eben eine Art Heimkehrerstoff. Das Ganze spielt 1918, 1919. Es scheint wirklich vom Stoff her ein abgehandeltes Thema zu sein - was es aber, wenn man das Fragment liest, in keinster Weise ist, durch diesen Modellcharakter oder durch die Problemstellungen, die da auftauchen - abstrahiert von dem Milieu, in dem sie stattfinden, aber nicht von der Sprache.
C.B.
Ja. Was sind die Problemfelder? Am prägnantesten in A 31 zusammengefasst: "Indem sie um zu leben sich von der Masse scheiden verlieren sie ihr Leben von vornherein".
Das sind Figuren in einer Bewegung drin, d.h. dem Krieg - dann gibt's den Punkt, wo Schluss ist, man geht einen anderen als den vorgeschriebenen Weg - man geht zurück und dann ist es gar keine Frage von Ideologie, sondern aus reinem Pragmatismus bleibt man zusammen, weil man weiß, zusammen kommt man besser durch. Und aus diesem Pragmatismus - eine Chronologie bildend -  dem Moment, dass sie sich in das "Haus in Mühlheim von dem einen" zurückziehen, kommen sie in eine Situation, in der "öffentlich" und "privat" durch den Krieg schon aufgelöst sind, aber dann noch fortgeführt aufgelöst bleiben. In einem Versteck hausend, versuchen sie eine Überlebensorganisation zu entwickeln, die aber in dem Besitztum und mit der Frau des einen stattfindet. Die ganzen Besitzmodelle werden aufgehoben oder es wird versucht, sie umzuorganisieren. Das ist ja schon ein zentrales Thema. Wenn man bedenkt, wie sich heute Gesellschaft über Besitz oder die Akzeptanz von Besitz, oder Status als Besitz, definiert, ist natürlich hier Besitz als "Einfach-nur-ein-Dach-über-dem-Kopf-Haben" auf eine sehr reduzierte Weise zusammengefasst - wobei ja interessant ist, welche Konflikte in dieser Art von mikroskopischen Situation aufkommen: Wer ist fähig, für den Unterhalt zu sorgen, in welchen Strategien, ist er gewillt, Strategien zu akzeptieren, die das Überleben für die andern absichern, läßt er sich funktionalisieren...
C.S.
Aber doch auch weitergehend, was ist überhaupt die Qualität von Überleben - oder ist Überleben um jeden Preis überhaupt eine Qualität - was dann auf sehr unterschiedliche Weise von Fatzer und von der Koch/Keuner-Figur thematisiert wird - und von der Frau noch mal auf eine ganz spezifische Weise.
C.B.
Wie Heiner Müller schreibt, sie warten auf die Revolution, aber die Revolution kommt nicht und deshalb zerstören sie sich gegenseitig - Koch macht aus der Situation eine Ideologie, die zunächst darin gar nicht enthalten ist, und die Fatzerfigur bekommt da natürlich eine extreme Spiegelfunktion, individuelle Bedürfnislagen abzuarbeiten, die meinetwegen der Kaumann genauso hat wie Büsching - "Fleisch haben". Das ist das eine und das andere ist das Feld der Sexualität. Unterschiedliche  Konfliktstrategien werden aufgemacht. In so einer konzentrierten Situation - in einer Art unfreiwilligen Kommune - ist die große Frage ja bei ständiger Präsenz aller, wie regelt man das Thema der Sexualität. Und es sind ja nicht fünf frei zusammengekommene Figuren, sondern es ist ein Ehepaar dabei. Es ist noch ein Relikt einer bestimmten Gesellschaftsstruktur da, was über diesen Kriegshintergrund außer Kraft gesetzt wird und in dem die ganzen Strukturen neu überdacht werden. Letztendlich geht's um Lebensformen - oder um Lebensformen, mit Sexualität umzugehen. Jenseits der klassischen Paarbeziehung. Das wird da über den Kriegshintergrund vergrößert und über das Versteck, sie müssen da bleiben, und verschärft darüber, dass der Mann nicht mehr mit der Frau will, weil er so schlecht frisst, Fatzer aber will und sie auch und man nicht weiß, wer mit wem will - bei den anderen Figuren wird es nie klar thematisiert -, so dass dann Strategien überlegt werden, mit diesem Problem umzugehen. Das Schärfste ist, dass, weil die Frau befriedigt werden will, sie huren soll, damit sie ablenkt davon, dass da vier Deserteure hausen, als auch, dass sie Geld bekommt, als auch, dass sie befriedigt wird ..
C.S.
Und um die Arbeiter, ihre Kunden, auszuhorchen, "um zu erfahren, wie unzufrieden die Fabriken sind".
C.B.
Genau! Eigentlich also ein praktisches Denken angelegt wird in Bereichen, die man nie so praktisch betrachtet und das dadurch eine unheimliche Schärfe bekommt, weil es einem ermöglicht, über grundsätzlich akzeptierte Zusammenhänge ganz anders zu denken.
Das ist so ein Konfliktfeld. Das andere Moment ist eine Art von Bedingungsgefüge, die diese vier oder fünf verbindet. Diese Art von Hinterfragung einer Führerfigur, die natürlich immer auch ein Umfeld braucht, das sie überhaupt existieren lässt - und Fatzer, der sich immer wieder davon lösen will, aber immer wieder zurückkommt, was ja interessant ist, und schlussendlich - chronologisch weitererzählt - er sie verrät und ihnen die Besatzungstruppen auf den Hals hetzt, während die anderen ihn exekutieren wollen. Aber letztendlich ist der Verlust des einen der Tod aller. Das ist ja interessant, dass es da im Grunde keinerlei Differenzierung mehr gibt. Also ein Modell, das zufällig entstanden ist - sie müssen zusammen durchkommen - , zu einem zwingenden Bedingungsgefüge wird, wo alle dabei draufgehen. Also laut Müller. Aber wahrscheinlich logisch. Aber an was sie scheitern, wirft ständig unterschiedliche Fragestellungen auf.
C.S.
Und was denkst du wann und warum der Chor ins Spiel kommt? Vielmehr, DER Chor ist falsch bezeichnet, es tauchen irgendwann in der dritten, aber verstärkt dann in der vierten Arbeitsphase, Chöre auf. Oder Modelle für mögliche Chorbildungen - das ist soweit von uns ja auch praktisch noch nicht ausgelotet. Aber im Fragment gibt es keinen bereits fixierten Chor, der eine bestimmte Position hat wie dann in der Maßnahme z.B.
C.B.
Mir fällt kaum was ein, wo der Chor in seiner Qualität beschrieben wird - im Unterschied zu Figurenbeschreibungen.
C.S.
Meinst du in der Literatur oder im Diskurs über das Fatzerfragment?
C.B.
Nein, im Fatzerfragment, der Chor wird völlig draußen gelassen - außer z.B. bei A 20, wo "der Chor den Beischlaf in dem Moment erzählt in dem er unten stattfindet". Ich denke, dass der Chor eine Art Öffentlichkeitsmodell ist - oder nicht Öffentlichkeitsmodell, er repräsentiert nicht Öffentlichkeit - sondern probiert glaube ich noch mal abstrahierter, obwohl die ganze Sprache eigentlich kein Milieu repräsentiert, die Grundsätzlichkeit auf einer anderen Ebene zu reflektieren - als Lebensvorgang, oder als Daseinsvorgang, als -
C.S.
Schlichtwegs als mögliche Haltung jenseits von Individuum/Figur.
C.B.
Ja, denke ich. Was irgendwann ganz wichtig wird als ein gleichberechtigter Part zu dem. Besonders in der vierten Arbeitsphase. Wobei es hier sich ja extrem dem Lehrstück anzunähern scheint - d.h. es gibt scheinbar Wahrheiten. Was es in der Dritten nie gibt, weil die sich immer wieder aufheben. Wo es am Anfang noch so ein "wahres" Figurenmodell zu geben scheint, gibt's in der dritten Arbeitsphase die völlige Auflösung von allem und das scheint dann bestimmte Wahrheiten zu ergeben. Das ist ganz bizarr, wie das zusammenhängt. Da muss man natürlich mitdenken, wie das Lehrstück aufgebaut ist, dass eine formulierte Wahrheit natürlich nie gleich ist einer Einsicht des Autors -
C.S.
- oder einer philosophischen Erkenntnis, einer "wahren Aussage" -
C.B.
Nein, sondern es ist wie eine Zuspitzung von möglichen Positionen, die immer den Kommunikationsprozess mitdenken. D.h., dass da eine gewisse Haltung sehr eng geführt wird, die aber nie eins zu eins rezipiert werden soll, sondern die auf eine sehr pointierte Weise ein Kommunikationsverhältnis aufmacht, zu dem man sich dann verhalten muss. Siehe Maßnahme. Diese ganze eindeutige Deutung ist ja furchterregend, die Knappheit oder Einfachheit der Darstellung ist ja so lückenhaft, dass es zu einer eigenen Positionierung zwingt - und das ist glaube ich auch die Qualität des Lehrstücks als Kommunikationsmodell. Jenseits von einer religiösen Verkündung von Wahrheit oder eines oratorienhaften Einsehens.
C.S.
Um jetzt zu dem Gegenstand Arbeitsweise zu kommen - oder zu dem, was du als Kommunikationsmodell beschrieben hast, es ist ja sehr spezifisch entstanden. Man könnte ja sagen, naja, ist ja klar, als Fragment ist es unfertig und man arbeitet mit Improvisation, das ist auch unfertig, und dann passt das schon zusammen - eins zu eins. Aber das ist nicht der Moment dessen.
C.B.
Ich wollte noch was zur 5. Arbeitsphase sagen, die auf theaterbrauchbare Formen reduziert ist. Das ist für mich das Uninteressanteste. Das große Glück ist, dass Brecht diesen Text nie zu Ende gestellt hat - was glaube ich auch seine mythische Größe ausmacht im Schaffen Brechts.
C.S.
Ich muss sagen, ich war schockiert, als ich das gelesen habe, weil da so eine Anbiederung ans Milieu stattfindet.
C.B.
Ans Milieu und dann an ein eventuelles Publikum, auf Verstehbarkeit, wobei das Fatzerfragment auf eine glückliche Weise entglitten zu sein scheint ob des Themas. Und hier gibt's dann so eine Art von Sendungsbewusstsein oder von zu vermittelndem Inhalt, was das Ganze trotz seiner z.T. guten Sprache furchtbar reduziert.
Aber es gibt immer noch den Kommentarkomplex, indem es den wichtigen Kommentar gibt, wo Brecht sagt, es gehe um seine Methode, die man daran beobachten kann. Und das ist das fundamental Wichtige daran. Bestimmte Aspekte - vom Leben, vom Sterben - tauchen auf eine andere Art auf, es werden Hinweise gemacht auf das Lehrstück, auf die Theorie der Pädagogien - dass man im Theater Dinge spielen kann, die einem soziale Strukturen verständlicher machen und dadurch veränderbar. Also noch mal eine größere Ebene aufgemacht wird -
C.S.
Und wie der Chor oder die Chormodelle die Frage der Überschreitung Figur/Individuum in einer "theatralen Gestalt" thematisiert, reflektiert die Kommentarebene das über Schrift, also in einem anderen Medium und mit den spezifischen Möglichkeiten des Mediums. Es bleibt aber eine Anforderung, das zu "spielen" oder zu sprechen oder im Spiel damit umzugehen. Diese andere Thematisierungsform z.B. vom Tod. Auf der Ebene des Schreibens, der Schrift wird nochmals eine neue Form von Kommunikation für die Darstellung aufgebaut.
C.B.
Und in dem gibt es immer wieder Hinweise, dass es um Selbstverständigung geht - dass der Schreibende sich selber lehrt, über das Tun, dass der Lehrvorgang im Tun liegt. Vorgeführt wird, an den Produktionsprozess des Autors ranzukommen, der so ohne Zweck ist z.T. - das ist die große Qualität daran - und in dem aber die große Mühe spürbar ist, etwas zu fassen.
Was nicht über eine klare Sendung strukturiert ist, oder eine Fabel, sondern über diese Art von Selbstverständigung im Schreiben. Und da denke ich, ist auch die Verbindung mit unserer Arbeitsweise.
Das Ausprobieren über das Tun, Haltungen finden, Weiterprobieren und darüber das Handeln wieder zu verändern, ist in die Schrift eingelassen - in die unterschiedlichen Ebenen, die in der Fragment-Ausgabe chronologisch geordnet und unterteilt sind in A-Texte, konzeptionelle, konstruktive Texte, B-Texte als szenische Fragmente oder Choranordnungen und in die gesamten C-Texte, die nicht chronologisch geordnet sind, die die Kommentare enthalten. Ein Versuch einer wertfreien Numerierung, die diese Textsorten aber trotzdem benennt, das sind ja die Nummern, die ich immer ins Spiel hineinschreie.
Und zu der Arbeitsweise ist für mich relevant, dass das Fragment den Anspruch hat, vollständig zu sein, es ihm aber nicht gelingt. Das ist ja auch eine Schwierigkeit für das Spiel, die ich bisher eigentlich recht wenig benutzt habt - du setzt was an und mußt dabei einen langen Atem haben, der abgebrochen wird. Du darfst dich nie im Spiel - und das ist leider sehr, sehr schwer - vorkonditionieren auf das bereits bekannte Fragment. Wie schafft man eine Unproportionaliät von Textlänge und Atem des Handelns. Oder den Ansatz von was, was darin bereits enthalten ist, aber vielleicht in der Lücke erst wirklich existiert. Wo du einen Satz hast, der in der Mitte aufhört, aber dieser Bruch plötzlich ganz viel transportiert oder aufmacht als Lücke, in der es dann arbeitet. Und das ist ja ein Moment der Spielweise, der schwer zu finden ist. Und in der Arbeitsweise insofern verankert, dass man in der Art von strenger Textarbeit, die ich versuche, dem Rhythmus folgt, weswegen wir den Text ja auch im Archiv verglichen haben, um die orthographische und grammatikalische Angleichung rückgängig zu machen und an den Schreibgestus ranzukommen, der einen anderen Sprechgestus aufmacht. Es gibt ja Texte ohne Punkt und Komma.
In Konfrontation mit der Strenge des Texts bewegt man sich in Anordnungen, in theatralen Improviationsstrukturen, in denen dann die Spieler durch das Handeln die Bedeutung bestimmen, in denen es keine inhaltlich fixierten Bedeutungsebenen gibt. Castorf z.B. arbeitet über die Pointe. Er weiß, was die Pointe ist, und wie du sie herstellst, obliegt dir dann frei als Spieler. Das ist ein anderer Vorgang. Hier geht's darum, diese jeweiligen sehr unterschiedlichen Textstrukturen überhaupt mal zu denken und übers Denken in den Körper zu bekommen und sie sprechen zu können. Und wenn man versucht, das wirklich als aufbauendes Sprechen zu sprechen, macht das was mit dem Denken und mit der Physis. In Konfrontation mit der Spielanordnung, die eigentlich immer entsteht, wenn man den Text zusammen bearbeitet oder aus einer jeweiligen Probensituation, einem Bedürfnis oder einem Manko oder einem Problem, versucht man dann Dinge zu konkretisieren.
Zurückkommend darauf, dass die Sprache so bildlos ist und dass sie nie Handeln beschreibt, sondern eigentlich Haltung. Und diese muß man als Handlungsmodell ernst nehmen und sich daran abarbeiten, um daraus Handlung zu produzieren, Handlung zu erfinden. Das ist ja der Vorgang.
C.S.
Eine Handlung zu erfinden ist ja unendlich schwer, weil man dazu neigt, Bilder zu erfinden.
C.B.
Z.B. Oder man neigt dazu, eine Handlung zu repräsentieren und nicht zu handeln. Oder in einer Absicherung von Handlung zu Handeln, symbolisches Handeln zu tun, wobei natürlich das theatrale Spiel ein in irgendeiner Form symbolischer Vorgang bleibt, aber die Frage ist ja, wo sind eigentlich die Risse, die das als konkretes Handeln interessant machen, wo man sich in dieser chorischen Konfrontation gegenseitig erschüttern kann. Oder gegenseitig berühren oder scheinbar klar fixierte Verhältnisse wieder aufbricht anhand von bestimmten Haltungen, die in den Texten aufgemacht werden. Oder anhand derer dann auch vielleicht wieder eine Art von interner sozialer Struktur wieder anders reflektiert. Wobei es ja nie um die totale Identität mit dem geht, sondern um die Art von  - Differenz, Reibung. Oder den Riss ernst zu nehmen, der vielleicht unfreiwillig auftaucht, aber das sind ja häufig die interessanten Momente, wo es nicht um die Repräsentation einer Geschichte von 1919 geht, sondern wo es eine gegenwärtige Situation wird. Dadurch, dass die Menschen, in dem, was sie da tun, es in dem Moment und in einer bestimmten Arbeitsweise tun, hat es eine Zweischneidigkeit in der Reflexion des Arbeitsmoments und der aktuellen Situation in der Stadt hier und heute, bei dem Wetter, in dem Raum, unter den Bedingungen sich mit diesem Text zu konfrontieren. Dadurch setzt man permanent kollektiv Bedeutung.
Bedeutung, die nie fix ist und innerhalb derer Bedürfnisse entstehen, bestimmte Bedeutungen mehr in die oder die andre Richtung zu treiben, was selten mit einer intendierten Aussage zu tun hat, aber häufig mit dem bestimmten Handlungspotential der Spieler. Häufig kommt man aus einer technischen Schwierigkeit auf Momente, die als ein Bearbeitungsfeld aufgemacht werden, die just im Text abgebildet sind oder thematisiert werden. Und natürlich sind im Rhythmus dieser Sprache Figurenkonstellationen schon extrem vorhanden, die jenseits der Bedeutung der Worte sind, sondern in der Reibung von Bedeutungsebene und metrischer Ebene existieren - man kann sagen, das ist immer bei guter gebundener Sprache der Fall, der Kampf zwischen Metrik und Dramatik - wobei dann aber nicht "Sinn" produziert wird, sondern Gedanken auf spezifische Weise strukturiert werden. Du musst permanent versuchen, diesen Kampf zwischen Rhythmus - Rhythmus heißt ja Denkweise - und Länge des Gedankens in ein Verhältnis zu bekommen und dabei immer wieder jedes einzelne Wort, d.h. das Material des Gedankens ernst nehmen.
Und in diese Form ist ein Gestus oder ein Verhältnis eingelassen, das ich vor dem Fatzer-Fragment noch nie entdeckt hatte.
C.S.
Interessanterweise berührt das sowohl das die Figurenkonstellation - bleiben wir mal bei dem Wort - aber immer auch das Selbstverhältnis der Figur zu sich.
C.B.
Wie meinst du das?
C.S.
In dem, wie die Rede skandiert ist, wie der Gedanke unterbrochen wird durch den Vers oder wie Gedanken, die völlig unterschiedlich sind, zusammengezogen werden, reflektiert die Form ja das Sprechen selber. Man kann das nicht einfach so sprechen, es kommt nicht so einfach aus einem raus, aus dem Spieler oder der Figur. Das meine ich mit Selbstverhältnis, das wird ja dadurch transparent. Die ganz konkrete Weg zwischen dem Sprecher und dem Gesprochenen.
C.B.
Weil's ja den permanenten Fluss stört - das Zögern, das Verschieben:
"Ich/ Mache keinen Krieg mehr" ist ja was ganz andres als ich mache keinen Krieg mehr. Das stimmt. Selbstverhältnis als Widerstand.
C.S.
Selbstverhältnis als Sprechender. Sagen wir mal nicht Figur und auch nicht Spieler, sondern als Sprechender oder im Sprechen als körperlichem Vorgang, nicht als Reflexion auf ein "Ich".
C.B.
Was mich daran auch immer fasziniert hat, ist, dass der Text nie aufhört. Der bricht immer ab, aber es geht nie zurück. Es ist ein permanentes Vorwärts und er hat ein unheimliches Tempo in sich, was nie verharrt. Deshalb kam die Improvisationsarbeit aus dem Text und deshalb finde ich inzwischen die Improvisationsarbeit mit dem Text so unabläßlich - weil die Art der Konsequenz von Handeln in der Sprache liegt. Das finde ich einen ziemlichen Hammer. Es ist kein abgeschlossener Vorgang, kein Organismus, sondern es ist eine bestimmte Dynamik oder Konsequenz, die in die Sprache eingelassen ist. Die ich innerhalb der Gesellschaft vermisse oder nicht sehe oder nicht zwingend empfinde oder damit konfrontiert werde. Und das sind auch so Sachen, nun auf Genf [3] bezogen, als Zuschauer  wirklich tätig wurden. Dieses permanente Weiter, das eine Art von Muss an Tätigkeit oder Positionierung provoziert, so dass plötzlich unerwartete Aktivitäten entstanden oder auch einen Raum hatten. Diesen Moment fand ich interessant, der ein ganz anderes soziales Feld aufmacht, wirklich ein utopisches Feld, jetzt völlig jenseits von Kommunismus oder einer politischen Form gedacht, ein anderes Handlungsfeld, was sich aus bestimmten sozialen Zwängen oder Selbstverständlichkeiten rauslöst. Das finde ich irre, wenn das dann im Theater stattfindet.
C.S.
Ich dachte auch grade, es wäre ja ausreichend und präzise beschrieben als theatrale Utopie. Du sagst, jenseits von Kommunismus, es geht da ja nicht um die Gesellschaftsform, aber es greift natürlich dahin aus, wenn man es im Theater präzise so tut.
C.B.
Ja, aber nicht als Proklamation, was sein soll, sondern als tatsächlich stattgefunden habender Vorgang. Das hat mich so frappiert und nicht losgelassen, das hatte ich auch vorher noch nicht erlebt, diese Art von Einschreiten oder eingreifendem Handeln. Was ja im Alltag selten sichtbar wird als eine Art von Konsequenz oder Überschreitung.
Diese Überschreitung hat der Text in sich. Und wenn man das in so einer klaren Art und Weise setzen kann, dass sich das kommuniziert, indem es nicht gedanklich rezipierbar wird, sondern ein Handeln erfordert, was nicht beliebig, sondern bestimmt ist und den Entscheidungsprozess wie zwangsläufig mitttut. Das ist der Moment, der mich verfolgt. Ich glaube aber auch, dass Brecht wirklich Angst hatte vor diesem Text. Denn es war klar, dass er in diesem Rahmen schon sprengend ist. Außer er baut es in so eine Art von theatraler Konvention, wie er es dann in der 5. Arbeitsphase probiert hat. Das war wahrscheinlich auch seine Vision. Aber ich denke, eine bestimmte Konsequenz von Denken oder Sprache war ihm vielleicht wirklich unheimlich, gerade in der Art von nicht-ortbarer Theatralität. Sondern in ihrer Aufgerissenheit und ihren Blitzen, die da aufsteigen.
C.S.
Die in der Maßnahme z.B. ganz anders gefügt sind - diese Theatraliät ist dort in die Grundanordnung eingelassen - die Lücken sind sozusagen schon klar bestimmt.
C.B.
Ja. Und es ist halt keine Not - wie es bei Fatzer oft wirklich eine Not ist, dass der Gedanke abbricht und die Sprache nicht weiterfließt, rüde abbricht, was genial ist, und dort ist es genau gesetzt, es geht um Wirkung. Und in Fatzer geht es zunächst nicht um eine definierte Wirkungsabsicht, sondern "es wirkt".
Für uns geht es darum, sich klar mit dieser Sprache zu konfrontieren und dann zu versuchen, das in eine räumliche Situation zu transformieren, die dezentral ist, die zunächst keinerlei Konventionen hat - ich hör da auch keine Rinder schreien wie manche - in einem Ort, der auch wieder so merkwürdig zusammengebaut ist, mit Plätzen, die offenbar Reste aus den 70er Jahren sind aber an Faschismus erinnern, was völlig absurd ist, mit den Autobahnen und den Rinderhallen aus der Jahrhundertwende, wo einzelne Räume wieder Zentralperspektiven zulassen, aber in einer Dimension, die das schon wieder auflöst. Auch dort eine Nicht-Einsichtigkeit von Räumlichkeit und eine Vielschichtigkeit von Historie. Was ja auch im Text ist. 1917/18 - 1926-31 - 2000 - das kommunistische Zeitalter ist wider Erwarten nicht angebrochen - in vielschichtigen Räumen, die wiederum in einem ganz bestimmten Verhältnis zur Stadt stehen.
C.S.
Ja. Vollkommen randständig, aber von der Lage neben dem Zentrum von Wien -
C.B.
Und in einer beeindruckenden Weite und Offenheit - gegenüber Wien, was oft so etwas Unproportionales hat, dass man als einzelner in dem voll mickrig erscheint oder umgekehrt - eine klebende Engesituation.
Und natürlich ist diesem Handlungsmodell, das mich da interessiert, mit keinerlei Interpretation beizukommen.
C.S.
Im Grunde sind es alles Fragen von Ökonomie. Z.B. was du vorhin beschrieben hast - wie kriegt man den Ansatz eines Fragments oder einer Anordnung in einen langen Atem - wie ökonomisiert man sich so, dass nicht im Anfang schon das Ende beschlossen ist - wie operiert man mit einer bestimmten Dauer, einer bestimmten Erschöpfung, sowohl physisch als auch im Erfinden sich immer wach zu halten, nicht sein Pulver verschießen und dann blöd da stehen oder ewig warten und dann hinterherschauen. In dem, wie die Spielversuche laufen, zeigen sich ja auch wieder alle möglichen Modelle von persönlicher und theatraler Ökonomisierung. Wie man mit Forderungen verfährt -
C.B.
Oder wo man ausweicht usw. Und man kriegt ja nur eine haltbare Ökonomie, wenn die Einzelökonomien sich verschränken und tragen. Nur dann kann ich ja eine größere Ökonomie finden, und das ist ja eigentlich auch das Ziel unter unterschiedlichen thematischen Voraussetzungen - "chorische Improvisation".
Sobald man nur einzeln repräsentiert, ist es vollkommen öd, wird kein Konflikt daraus oder nichts zugespitzt und es ist absolut kurzlebig und das noch in dieser räumlichen Dimension, die jede persönliche Grenze und Überschaubarkeit sprengt. Oder schon eine Überschaubarkeit hat, aber in der wird der Mensch dann wirklich zum Objekt, d.h. zum farbigen Punkt am Horizont, der jenseits von Ausdruck und allem steht. Das ist ja ganz interessant eigentlich. Und für mich ist da wirklich eine theatrale Vision enthalten, die mit dem Text sich präzisiert hat und woran sich diese Arbeitsweise ausgebildet hat. Nun kann man sagen, in jeder Arbeitsweise ist ein gewisser Anteil von Willkür oder Interpretation enthalten, aber die Erkenntnisse sind wirklich anhand dieses Textes gefunden worden. Und ich denke, dass das eine ganz andere Art von Produzieren und Interagieren erfordert, weil ja sonst sämtliche Strategien ein ganz klares Wirkungsmuster setzen. Das ist ja hier nie der Fall, man weiß ja nie, wie es wirkt, gut, das weiß man schon, aber es gibt nie die Sicherheit, etwas zu bewirken in dem und dem Sinne, denn wenn der einzelne was will und der andere was andres will, verschiebt sich das ja sofort. Und was da an Tun im Augenblick stattfindet oder an Erschütterung auch an Selbstverständnissen von Theaterrezeption. Das ist ja am Schlachthof so, dass wenn ich dahingehe, ich erstmal alles für möglich halte, da kann jetzt auch Nitsch seine Rinder schlachten, aber in dem  werden durch die Größe, Texte, Art der Bewegungen auch Erwartungen enttäuscht. Denn der, der da alles erwartet, ist enttäuscht, weil das Spektakel nicht stattfindet, er wird nicht unterhalten, er wird nicht permanent bei der Stange gehalten. Es wird nur interessant, wenn er seine Art von Präsenz wahrnimmt und damit operiert und das auch als Spielmaterial überhaupt hergibt. Andererseits gibt es diese Enttäuschung von Theater als klar bedeutungssetzendem rezipierbaren Vorgang. Das kostet einfach Anstrengung - oder es ist eine Lust, dass man als intelligenter Mensch verstanden wird, der die Bedeutung selber macht und nicht volksschulmäßig mit Ideen verdummt wird. Ein im Moment stattfindender physischer Denkvorgang, an dem man teilnimmt. Ich weiß nicht, wo ich das sonst habe - häufig habe ich ein mir bekanntes Ritual, in dem ich die Minidifferenzen auslote, aber ich weiß um die Funktion. Das ganze hier hat keine Funktion. Und es ist kein event, auch wenn es Elemente davon hat, weil das, was stattfindet, viel zu minimalistisch und reduziert ist, um genug Attraktion zu sein. Und und und. Das ist für mich genau der Moment, um eine Art von öffentlichem gesellschaftlichen Konfrontationsfeld aufzumachen, was sich nicht an runden Tischen oder Redesituationen orientiert, sondern was das physisch thematisiert. Wie man jeden Zuschauer physisch wahrnimmt und bestimmt, in der Dimension der Räume und mit den Texten, der jeden auch im Hören in seinen Selbstverständlichkeiten hinterfragt. Das ist auch der Moment von Veränderbarkeit, weil es körperlich ist. Ich denke, wenn etwas körperlich begriffen wird, dann wirkt das anders als Diskussionen.


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