theatercombinat | 1/1999 – 12/2000 massakermykene «orestie» aischylos, «fatzer-fragment» bertolt brecht, 2 jahre proben, 15 veröffentlichungen zwischen 36 minuten und 36 stunden dauer im schlachthof st. marx, wien (a)

zur sprache + zum sprechen

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MassakerMykene
Material 2

Zu VI. Arbeitsansatz

"Die Struktur der Texte setzt gesellschaftliche Modelle, mit denen man sich sprachlich und formal konfrontieren muß.
Der Text gibt einen bestimmten Rhythmus vor, als Reibungspotential für Spieler/Zuschauer. Er organisiert ebenso wie der Raum die Gesten/ Ausdrucksmittel/möglichen Konstellationen." (Material 1, S.5)

Die folgenden Ausschnitte aus Beschreibungen von Spielern zu der Frage, wie der Text das Agieren strukturiert - hier auf das Fatzer-Fragment bezogen - spiegeln den momentanen Arbeitsstand wider. Einerseits soll die interne Verständigung organisiert werden, so daß die Beschreibungen wieder in die Improvisationen eingreifen können, zum andern der Arbeitsprozeß dokumentiert und zur Diskussion gestellt werden.

Dem Schreiben gingen Gespräche zur Vorgehensweise und Methode voraus. Die Suche nach der Unterscheidung von Einflußfeldern auf das spielerische Handeln ergab für dieses Material 2 die Frage nach der "Textstruktur". Andere Felder wären die Probenorganisation mit ihren Abläufen und Strukturen, die Veröffentlichungsstruktur, die Arbeitsweisen des Combinats, die Rahmenbedingungen des Projekts und die interne Konstellation der Spieler. Themen zur Arbeit an der Frage: Was ist der Chor?

Das Arbeitsjournal wird begleitend zu den Veröffentlichungen fortgesetzt.


Was ist das also, die Textstruktur?
Wenn ich daran denke, was mir wie im Spiel vom Text her bestimmte Handlungsimpulse gibt, dann ist das bewußt zunächst weniger die Struktur als der Inhalt.
Das ist in den Fatzerfragmenten ein ständiger und mehr oder weniger schneller Interpretationsvorgang, eine Gespaltenheit zwischen dem "im Moment sein" und auf die von allen zusammen gegebene Situation zu reagieren und gleichzeitig in Bezug auf diese Situation das, was im Text weiter folgt, als Material für meine nächste Entscheidung, den nächsten Spielzug zu nehmen. Immer im Unklaren darüber, ob diese meine Interpretation von irgendwem gesehen oder geteilt wird, ob sie als Material in die Entscheidungen der anderen eingeht, oder ignoriert wird, oder, was meistens passiert und ja auch das tolle ist, durch das Agieren der Gegenüber manchmal präzisiert, manchmal verändert wird.
"Neue Beschlüsse. Umwerfend. Immerfort neue Situation". (A10)
Denn ich "weiß" nichts von den Interpretationen der andern, außer dem, was sich zeigt. Es gibt keine Rede und keine Regie, die diesen Vorgang verbal homogenisiert, "auf den Begriff", oder zu Ende bringt.
C.S.

In welchem Verhältnis stehen die einzelnen Fragmente mit ihrer je spezifischen Struktur zueinander. Welche Zusammengehörigkeit untereinander haben sie, wie sieht die Verbindung aus? Um das zu begreifen, bräuchte ich einen freieren Blick auf das Material, als ich ihn derzeit habe. Wie kriege ich diesen Blick.
A.R. 

Feststellung, daß mich die Struktur nie wirklich (oder nie bewußt) zu einer bestimmten Aktion zwingt. Besonders bei Fatzer bin ich sehr darin verhaftet, denotierbare Proxemik, Gesten etc. produzieren zu wollen. Denotierbar meine ich hier auf verschiedenen Ebenen: zum einen im Bezug auf den Text (Textinhalt und Text als Metatext) und zum anderen in Bezug auf unsere Arbeit am/mit/durch den Text. Im Moment ist mir nicht klar, wie das bei strukurellen Aspekten aussehen kann. Interessant: gibt es ein Bewegungsvokabular, das bezüglich des Inhalts denotierbar ist und gleichzeitig die Struktur des Textes "verschriftet"? Kann ich ohne Text zu sprechen die Textstruktur körperlich aufrufen? Und ist eine derart verschriftete Textstruktur für die Kommunikation überhaupt relevant?
D.U.


Text und Sprechen
Die Textstruktur als "Fatzer-Vers" - Zeilensprünge, Satzzeichen als rhythmische und "chorische" Muster, und unsere "Zeilenzeiten" - d.h. die Schrift ist die Partitur des Sprechens - das Halten von kurzen Zeilen, die Beschleunigung der Anschlüsse in langen Zeilen.

In der Textarbeit am Tisch oder in anderen statischen Anordnungen, wie dem Üben des Adressierens der Texte über Distanzen aber ohne "szenisches Agieren" - gelingt es, diese Partitur präzise zu erfüllen. Dann liegt die Struktur und ihr Zusammenhang mit der Intention des Gesagten offen zutage - subjektive Intonation wird zur Zusatzinformation, zu Variationsmöglichkeiten, auch zum Widerstand gegen das Muster.

So entsteht in dieser rhythmischen Textarbeit eine physische Kenntnis des Materials in seiner Widersprüchlichkeit, die allerdings oft im Agieren selbst nicht mehr zu halten ist. Wenn das Sprechen vom "Objektiven", vom Muster, völlig in das Agieren des einzelnen Spielers übergeht, der bindende Rhythmus zerbricht, bleiben Individuen. Vielleicht ist aber umgekehrt genau diese Möglichkeit, über die Isolation im Spiel, beim Verlieren des "objektiven" Rhythmus', zu einem "chorischen" Widerspruch zu kommen, zu wenig ergriffen und bislang nur von den Zuschauerreaktionen her besprochen: Die Fragmente B 24 und B 27 werden immer wieder beschrieben als wichtige Orientierungsmomente, in denen klar wird, "um was es geht".
C.S.


Text und Raum
Ich schaue, in der improvisation, wo die anderen sind, bzw. versuche sie zu hören, versuche eine photographie unserer verteilung im raum anzulegen: wo ist der schwerpunkt, wo sind freiräume, löcher, verlängerungen, parallelen zu den achsen, welche haltungen und bewegungen im raum nehmen die mitspieler ein, verstärken sie die raumachsen oder arbeiten sie dagegen, in welchen tempi arbeiten sie, gibt es einen grundrhythmus, oder drei verschiedene, welchen rhythmus hat der raum, in dem wir improvisieren - ein kleiner raum hat meistens einen schnelleren - oder ist es nur ein ausschnitt aus einem grossen raum.
Und die frage, wer spricht wie wann welchen text.
Da ich den inhalt schon kenne, interessiert mich primär lautstärke, tempo, ort des sprechens und richtung bzw. ziel.
Erst in zweiter linie: exaktheit des versmaßes und absicht (mit absicht meine ich, ob der sprechrhythmus bewußt beibehalten und durchgezogen wird, ob er beschleunigt oder verlangsamt wird, wie pausen gesetzt werden, ob ich darin eine tendenz erkennen kann oder dies zufällig zu geschehen scheint).
A.P.


Fatzerkommentar
C 21


Gesicht des Denkenden von der Zeit nach ihm
Eben
Stellten sie den Stuhl, den alten
Worauf steht "auf dem soll sitzen
Nur der gut ist und am besten: jeder"
Mit der vorgeschriebenen Bewegung
An den alten Platz, vom Maskenbrett
Griffen sie die abgegriffenen Masken
Schreiend teils, teils murmelnd sangen
Sie den Text, bemüht, ihn
Rein zu halten von Gefühlen
An den vorgeschriebenen Stellen klatschten
Ihre Hörer höflich zeigend
Daß sie eingeweiht sind und noch
Einverstanden
Und er wartete
Ab noch jene Stelle, wo der
Erste Spieler sich falsch setzen muß, und als sie
In der angegebenen Weise pfiffen, sah er
Daß sie die Gesetze ehrten, und
Verließ sie
bertolt brecht


Text und Adressat
Ganz andere Fragen werfen die Fragmente auf, die keine schon in der Textstruktur enthaltenen Adressaten oder Sprecher haben (wie im Dialog).
Das sind die A-Texte, die Chortexte und der Fatzerkommentar (C). Die A-Texte wenden sich zumeist an eine Situation, also vielleicht an niemand außer uns Spieler als Forderung, dem Geschriebenen Gestalt zu geben als Voraussetzung für das weitere Spiel. Die Chortexte wenden sich an ein Außen, ein Publikum - ohne aber, wie in der Orestie, ihren festgefügten Ort im Gesamtplan zu haben. Die Fatzer - Chöre haben keinen festen Ort, an den sie ein Publikum stellen, beides muß immer neu erzeugt werden.
In den "Szenen" weiß ich, wen ich wie zu adressieren habe - jenseits der dann auftretenden Mißverständnisse: Die Spieler sind als Figur des Texts ein Gegenüber. In diese Konstellation können auch Zuschauer eingebaut werden.
In den A-Texten scheint alles viel isolierter, zusammenhangsloser: warum spreche ich wie wann an wen oder wohin. Reagiert das Sprechen als Kommentar/Deutung auf eine gebaute Situation (die dann sozusagen nachträglich einen neuen "Sinn" bekommt) - oder gebe ich die Sprache ein als Impuls, eine Situation herzustellen, oder nur aus Hilflosigkeit oder um einfach irgendeinen Energieinput zu geben, oder um auf mich hinzuweisen, weil man vielleicht an einer Stelle angekommen ist, auf der man von niemandem mehr vermutet wird - d.h. als internes Zeichen zur Orientierung.
C.S.


Text und Spiel
Ohne eine von außen gesetzte Interpretation agiert man in einer Offenheit, die einen im Spiel schlußendlich im Unklaren läßt über die eigene Wirkung. Die Entscheidungen, was wie in welchem Moment zu tun ist, bleiben bei einem selbst.
Das stimmt grundsätzlich; im praktischen Prozeß entstehen Versuchsanordnungen, Fixierungen von Spieletappen, die Schneisen schlagen, die man mehr oder weniger gerne begeht.
Für die Orestie ist das die Chorbewegung, die den Grundzug des Spiels ausmacht und den Horizont bildet für das Herauslösen und Wiedereintreten der Protagonisten in den Chor. 
Die Fragmentanordnungen zu Fatzer sind Versuche, Grundkonstellationen zu schaffen, in denen sich der unabschließbare Vorgang der Immer-Wieder-Neukonstruktion und der erweiterten Verständigung über den Text und das Tun unter gewissen physischen, räumlichen oder zeitlichen Vorgaben präzisiert. Unter dem Aspekt könnte man jetzt jedes einzelne Fragment und jede Anordnung analysieren und auf ihre Möglichkeiten und Ausschließungen von Möglichkeiten hin befragen.
Konkret: B 24, B 27 als klare szenische Dialoge haben eine räumliche Begrenzung und einen "Ablaufplan", der dem szenischen entspricht und den Konflikt in seiner Anordnung enthält: Die Bewegung in B 24 von versprengten Figuren, die sich an einem Punkt sammeln, bei dem dann "die Abstimmung" stattfindet - um dann wieder auseinanderzustreben und den Raum für das spielerische Ausloten der Auswirkung der Abstimmung auf das Kollektiv eröffnen. B 27 nimmt durch die Auflage, Fatzer habe sich schnell, die andern langsam zu bewegen, die Scheidung des Kollektivs - wie im Text - bereits vorweg. Die physische Entgegensetzung der Spieler ist hier das Material, in dem sich die Effekte der Spaltung für das Kollektiv austragen, schlußendlich die Frage nach Leben oder Tod Fatzers oder aller.
Zum Thema "Theater als Erfahrungsraum für soziale Praxis" (S.5) - dem Unbewußten des Spiels und den Widerständen, die dabei auftauchen.
Orestie und Fatzer sind keine Texte, in denen man sich einrichten und bruchlos eigene Erfahrungen unterbringen könnte. Diese Texte sind  Forderungen ans Bewußtsein, an die Physis, an den Umgang mit Zeit, Raum, an die Phantasie, an die Art und Weise, in der man lebt, kommuniziert.
Denn was passiert mit dem Überschuß, den man gestisch immer mitvermittelt, etwas, von dem man selber nichts weiß, was aber für die andern durchs Handeln sichtbar oder merkbar und vielleicht thematisierbar wird. Damit auch immer wieder für einen selber. Und oft will oder kann man genau diesen Spiegel gar nicht sehen, es ist ein Angriff, "unbewußt", auf sich persönlich. Auch das denke ich ist eine Quelle unserer Mißverständnisse, wenn nicht die wesentliche, gleichzeitig auch eine Quelle unserer Produktivität - eine Frage von Interesse aneinander und von Vertrauen, auch eine Frage nach der Organisierung des Verhältnisses innen/außen (Spieler/Regie) und der differenten Wahrnehmung voneinander. Und natürlich das Risiko des Ganzen: daß man weiß, man wird verändert durch den Chor, im Leben, auch in Bezug auf den Alltag. Man hat dabei sehr wenig im Griff, denn will man es in dem behalten, wird das Agieren zu klein. 
C.S.

Stand 5.1.2000


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