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theatercombinat
MassakerMykene
Material 1
C 2 fatzerdokument
"der zweck, wofür eine arbeit gemacht wird, ist nicht mit jenem zweck identisch, zu dem sie verwertet wird. so ist das fatzerdokument zunächst hauptsächlich zum lernen des schreibenden gemacht.
wird es späterhin zum lehrgegenstand, so wird durch diesen gegenstand von den schülern etwas völlig anderes gelernt, als der schreibende lernte. ich, der schreibende, muss nichts fertigmachen. es genügt, dass ich mich unterrichte. ich leite lediglich die untersuchung und meine methode dabei ist es, die der zuschauer untersuchen kann."
Bertolt Brecht, Fatzer-Fragment
Arbeit(s)Motive
Erforschung theatraler Produktion und Rezeption
Chor
Rhythmische Sprach- und Körperarbeit
Strukturierte Improvisation
Erstellen eines Arbeitsjournals im Internet (http://go.to/massakermykene)
Der Grundkörper im Raum ist ein chorischer. Der Einzelne hat, die Regel des Chores beachtend, alle individuelle Freiheit.
Der Zuschauer ist Mitgestalter des Raumkörpers.
Das theatrale Geschehen ordnet sich nicht aus der Identifikation des Spielers mit einer Figur, nicht aus der Zuteilung der unterschiedlichen Textstrukturen in Spielergruppen, sondern vielmehr aus einem gleichberechtigenden Wechseln, Tauschen, Gegenüberstellen aller Spieler mit den Texten, bei Präzision der rhythmischen Unterschiedlichkeiten der Texte und Situationen.
Jeder Spieler soll das Ganze im Auge haben, nicht nur einen segmentierten Part, sondern alle Parts in ihrer genauen konfliktreichen Differenz.
Die räumlichen und akustischen Gegebenheiten werden in ihrer Spezifizität genutzt. In die architektonischen Strukturen wird nicht eingegriffen, sondern über den Widerstand mit ihnen gearbeitet.
Es gibt weder Zuschauerraum noch Bühne. Der Raum ist Gesamterfahrungsraum für Zuschauer und Spieler.
Die Proben sind öffentlich. Für jede Veröffentlichung werden neue Versuchsanordnungen erstellt
Seit Anfang 1999 arbeiten wir in Wien an dem Projekt MassakerMykene.
Texte: Orestie (Aischylos) und Fatzer- Fragment (Brecht).
Spielort: verlassener Schlachthof St. Marx, Wien (gebaut um 1880), ca. 50.000 m².
Projektdauer: bis Ende 2000.
Produktive Auseinandersetzung mit der Raumstruktur heißt: die Gruppe erarbeitet auf dem Schlachthofgelände eine auf Ort/ Architektur/ Akustik bezogene Arbeitsfassung.
MassakerMykene
I. Textmaterial
Oresteia von Aischylos (I Agamemnon; II Choreophoren, III Eumeniden), in der Übersetzung von Oskar Werner und in Auszügen aus dem altgriechischen Orginaltext unter Beratung von Prof. Georg Danek.
Fatzer-Fragment von Bertolt Brecht (3. und 4. Arbeitsphase in der chronologischen Ordnung der kommentierten Ausgabe von Dr. Günther Gläser mit selbstrecherchierten Angleichungen an die Manuskripte im Brecht-Archiv, Berlin).
II. Ort
Schlachthof St. Marx. Das uneinheitliche Gelände konfrontiert in seiner Anlage verschiedene Zeitzonen: Die Schlachthallen, die betonierten Vorplätze, die Stadtautobahn. Im Konflikt dieser Pole, beim Geräusch der Stadt, wird es unmöglich Illusionsräume aufzubauen. Die Realität ist als "störendes" Moment immer vorhanden. Die karge Weiträumigkeit der Anlage steht im Widerspruch zur Enge und Kleinteiligkeit der Stadt. Ein verlassener Ort.
III. Text
Eine Tragödie in drei Teilen aus dem 5.Jh. v. Chr., geschrieben für den Wettbewerb. Ein Fragment aus dem 20.Jh., geschrieben zur "Selbstverständigung" (Brecht).
"Der Mythos in seiner authentischen Form gibt Antworten, ohne jemals genau die Fragen zu formulieren. Die Tragödie, wenn sie mythische Formen verwendet, benutzt diese, um durch sie Probleme zu zeigen, die keine Lösung haben." JeanPierre Vernant
"Der Text ist präideologisch, die Sprache formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den Denkprozess. Er hat die Authentizität des ersten Blicks auf ein Unbekanntes, den Schrecken der ersten Erscheinung des Neuen. (...) Der Schreibgestus ist der des Forschers, nicht der des Gelehrten, der Forschungsergebnisse interpretiert, oder des Lehrers, der sie weitergibt." Heiner Müller zu Fatzer
Die Antwortlosigkeit der Tragödie, des Fragments - keine Sinnstiftung von Recht, Politik, Philosophie. Eine Untersuchung von Bedingungen.
Zentrum und Perspektive der verwendeten Text - Modelle ist der Chor.
VI. Arbeitsansatz
"Ein Ritual ist eine Abfolge von Handlungen, die im Namen eines einzelnen oder einer Gemeinschaft ausgeführt werden und die dazu dienen, Raum und Zeit zu regeln, sowie den Menschen nach Kategorien und den sie verbindenden Beziehungen ihren Platz zuzuweisen."
Louise Briut Zaidman/ Pauline Schmitt Pantel
Die Arbeit zielt auf die Erprobung von Theater als rituellem Erfahrungsraum für soziale Praxis.
Kommunikationsstrukturen werden erarbeitet, die die Formen der Selbstverständigung von Theater - Raum, Spiel, Regie und Betrachter - in Frage stellen. Im Probenprozeß wird ein Gestenpotential entwickelt, das den Schauspielern erlaubt, sich körperlich zu den Texten in Beziehung zu setzen. Die Entwicklung neuer Strukturen in einem offenen Arbeitsprozeß erfordert eine heute unübliche Zeitspanne.
"... Wer den Chor auf die Bühne bringe, müsse seine Entstehung darstellen."
Karl Mickel zitiert Brecht nach Dessau.
Die Struktur der Texte setzt gesellschaftliche Modelle, mit denen man sich sprachlich und formal konfrontieren muß. Beim Lärm der Autobahn.
Der Text gibt einen bestimmten Rhythmus vor, als Reibungspotential für Spieler/Zuschauer. Er organisiert ebenso wie der Raum die Gesten/ Ausdrucksmittel/möglichen Konstellationen.
Nähe- und Distanzverhältnisse finden im Alltag keine offene, je zu erprobende räumliche Form. Alles geschieht in kleinen Räumen. Es gibt keine "Sichtweiten", man ist sich immer irgendwie nah. In weiten, gestalteten Räumen können soziale Verhältnisse räumlich austariert und sichtbar werden.
Die Arbeit untersucht Konstitution und Veränderung der räumlichen Strukturierung von Erfahrung.
Die architektonische Anordnung von St.Marx sprengt die Gesetze von Theater - Akustik, Perspektive etc. Distanzen sind nicht angedeutet, sondern real. Auf Grundlage der Texte müssen Techniken entwickelt werden, so daß das gesamte Schlachthausgelände als theatralisches System bearbeitet werden kann. Der Zuschauer ist Bestandteil dieses Systems.
Theaterschlachthaus.
V. Zeit
Es ergibt sich ein Arbeitszeitraum ab Februar 1999 bis Ende 2000. Diese lange Dauer und die Arbeitsweise fordern ein anderes Arbeiten mit der Öffentlichkeit.
MassakerMykene ist immer öffentlich, d.h. beobachtbar. Auf dem Schlachthof St.Marx ist man nie allein - es kommt laufend zu Zufallsbeobachtungen und -begegnungen mit Anwohnern, Arbeitern, Hundebesitzern, Spaziergängern, Ordnungshütern, Obdachlosen, Freunden und Feinden.
Etwa alle drei Wochen laden wir ein zu Veröffentlichungen, in denen Fragmente der Arbeit gezeigt werden. Jede Veröffentlichung ist anders, Teil des gesamten Prozesses, der in seiner Dauer und Entwicklung vom Zuschauer beobachtet und verändert werden kann. Die Dauer kann zwischen einer und 24 Stunden betragen. Gearbeitet wird durchs ganze Jahr.
VI. Raum
Kein Theaterhaus. In die Struktur der Räume wird nicht eingegriffen (keine Dekoration). Mit ihnen wird gearbeitet, wie sie sind.
" ... durch den Raum (...) verändert sich die ganze Arbeitsweise... Grundprinzip ist, daß man das Theater verändern muß. Das ist der Ausgangspunkt, und wenn man das will, muß man die Grundstruktur verändern: daß die Zuschauer auf der einen Seite sitzen und die Schauspieler auf der anderen. Wenn man das ändern will, ist man gezwungen, anders zu arbeiten, weil man nicht mehr die Bühne hat, durch die alles klar abgezirkelt ist. Wenn man einen Raum hat, erweitert den Raum nach außen hin, dann müssen die Schauspieler anders arbeiten und der Regisseur auch."
Josef Szeiler
VII. Kooperation
Innerhalb des Projekts findet eine Zusammenarbeit mit der Altphilologie und der Theaterwissenschaft (Arbeitsdokumentation mit Video und Schrift ) der Universität Wien statt.
VIII. Literatur
Aischylos Oresteia in Tragödien. Tusculum, griechisch-deutsch in der Übersetzung von Oskar Werner, 1996.
Bertolt Brecht Fatzer-Fragment. Suhrkamp Verlag. Frankfurt/Main 1997.
Hans Thies Lehmann Theater und Mythos. Stuttgart 1990.
Karl Mickel Pelageja Messinowa, oder: Der Chor. (1997), Marbacher Bibliothek Band II
Louise Briut Zaidman/ P. Schmitt Pantel Die Religion der Griechen. München 1997. |