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Unbekannte Theorieobjekte der Trendforschung (XLVI):
Identität als Produkt individualisierten Konsums
Franz Liebl
"Die Unbekannten Theorie-Objekte, sogenannte UTO's, sind zufällige Verdichtungen des theoretischen Feldes. ... UTO's sind Kristallkugeln, in denen das vage Licht eines noch nicht existierenden Theorems auftaucht." Schrieb 1993 die Agentur Bilwet aus Amsterdam, die sich die Verbreitung illegaler Wissenschaften zum Ziel gesetzt hat. Trendforschung als der Versuch, schwache Signale über Veränderungen in der Zukunft zu deuten, gehört auch zu diesen illegalen Wissenschaften. Denn Trends, die permanent in Bewegung sind und sich daher als kaum greifbar erweisen, können nicht mit herkömmlichen, legalen Formen der Wissenschaft hinreichend beschrieben werden. Trends sind, grob gesagt, wie Wanderdünen, die immer neue Formen annehmen und aus jeder Perspektive andere Abgrenzungen nahelegen. Und es ist typisch für Wanderdünen in dem einen Moment etwas freizugeben, um es im nächsten Augenblick wieder zu verschütten und unsichtbar zu machen. Genau genommen besteht also Trendforschung in dem Versuch, eine Art Archäologie der Wanderdüne zu betreiben und die einzelnen Sandschichten der Reihe nach freizulegen. Ein mühevoller Prozess, wie man sich vorstellen kann. Denn dass dabei die Reihenfolge immer wieder durcheinander gerät und Rekonstruktionen misslingen, liegt in der Natur der Sache. Alle Ergebnisse sind vorläufig, und man arbeitet in dem Bewusstsein, dass die Resultate auch ganz anders sein könnten. Insofern ist Trendforschung als Archäologie der Wanderdüne immer auch so etwas wie eine Archäologie des Zwischenstandes. In dieser 46. Folge meines Vortragszyklus' "Unbekannte Theorie-Objekte der Trendforschung", die dem Produkt Identität gewidmet ist, möchte ich eingehen auf den Verweisungszusammenhang zwischen Identität, ihrer Produktion und den Bedingungenfortgeschrittener Individualisierung. Dabei möchte ich insbesondere die Frage behandeln, welche zentrale Rolle der Konsum in diesen Produktionsverhältnissen einnimmt und Ihnen den Zwischenstand der Forschung über diese Individualsierungserscheinungen schildern.
Individualisierung in der Gesellschaft Der Begriff der Individualisierung wird häufig als zunehmende Fragmentierung von Wertsystemen interpretiert und als Gegensatz zur Gemeinschaftsbildung aufgefasst. Im schlimmsten Fall wird sie auf den platten Nenner gebracht: alles wird individueller. Tatsächlich umfasst Individualisierung jedoch eine Vielzahl von Phänomenen der Pluralisierung, wie zum Beispiel: die Entstandardisierung der Biographien: Alos, Kinder übernehmen nicht mehr den Beruf des Vaters; es ist beispielsweise nicht mehr möglich, von einem einmal erlernten Beruf auf den weiteren Verlauf des Erwerbslebens zu schliessen; Phasen von Arbeitsbesitz und Arbeitslosigkeit wechseln sich ab, durchdrungen von Phasen der Weiterbildung und Umorientierung.Biographische Brüche werden zum Normalfall. Dazu gesellt sich häufig eine erhöhte Vielfalt der Formen des Zusammenlebens jenseits der traditionellen Kleinfamilie - wir sehen alleinerziehende Mütter und Väter, Wohngemeinschaften oder gleichgeschlechtliche Ehepartner mit Kindern. Individualisierung heisst aber auch, dass im politischen Bereich eine zunehmende kurzfristige Themen-Orientierung das eherne Links-rechts-Schema ablöst; und ebenso lässt sich eine Auflösung traditionaler Gesellungsformen wie Kirche und Verein feststellen.Das heisst indes nicht, dass eine vollständige Fragmentierung der Gesellschaft die Folge wäre. Im Gegenteil, es machen sich nunmehr neue Gesellungsformen breit, die frei gewählt, nicht exclusiv, meist ästhetisch motiviert, sowie in der Regel von begrenzter Dauer sind, also etwa (Teilzeit-)Vergemeinschaftungen wie Szene oder virtual communities im Internet. Der Prozess der Individualisierung weist damit zwei Brennpunkte auf: erstens radikale Pluralisierung und zweitens das Basteln. Letzteres ist besonders interessant, da nicht mehr von langer Hand geplante Lebensentwürfe zum Zuge kommen, sondern immer wieder taktische Entscheidungen und Korrekturen getroffen werden müssen, von denen man genau weiss, dass sie nicht ewige Zeiten überdauern. Der individualisierte Mensch agiert also wie ein Bastler, der mit seinen beschränkten Möglichkeiten, die er zur Hand hat, operieren muss. Das gilt auch für die eigene Identität, so dass mein Soziologen-Kollege Ronald Hitzler gerne von Existenzbasteln, von Sinnbasteln und von Bastel-Identiät spricht.
Individualisierung im Konsumverhalten Auch der ökonomische Bereich, insbesondere die Konsumsphäre, bleibt von diesen Entwicklungen nicht unberührt. Das klassische Marketing etwa steht seit einiger Zeit ratlos vor einem Phänomen, das nunmehr in ungekannter Schärfe auftritt: Gabriel und Lang nennen es "the unmanageable consumer", also den "unberechenbaren Konsumenten". Das äußert sich in "Multioptionalität", "gespaltenem Käuferverhalten" oder gar "(Hyper-)Fragmentierung der Märkte", wie gängige Diagnosen in Bezug auf den Konsumgüterbereich lauten. Geringere Markentreue von Kunden trotz beachtlicher Werte in bezug auf die Produktzufriedenheit wird allgegenwärtig. Der "Porschefahrere, der Aldi kauft" ist zu einem vielstrapazierten Beispiel geworden. Schnäppchenjagd und Co-Shopping im Internet wird zum Sport für die Gruppe der "Besserverdienenden", die auch grotesk weite Strecken in Kauf nehmen, um am Liter Benzin einen Pfenning zu sparen; oder die ihre Designer-Kleidung in Factory Outlets wiet draußen auf der grünen Wiese erwerben statt in den innerstädtischen Edelboutiquen. Das bedeutet indes nicht, daß Marken insgesamt an Wichtigkeit verloren hätten. Denn umgekehrt setzen Kiner und Jugendliche unterer Schichten ihre Eltern zunehmend unter "Markenstress", indem sie ihnen hochpreisige Turnschuhe odert Sportjacken bestimmter angesagter Hersteller abnötigen. Die "Style Wars" auf den Schulhöfen sind also in vollem Gange. Sie toben ebenso in Musik-Clubs der Metropolen, wo nach strengen, aber kaum verbalisierbaren Regeln H&M-Garderobe mit Accessoires von Prada oder Gucci kombiniert wird. Im Gegenzug gilt es in ähnlicher Weise das Designer-Outfit gezielt mit Second-Hand-Ware stilistisch zu arrondieren, denn, so der o-Ton eines Trend-Scouts, "sich von Kopf bis Fuß in Prada einkleiden, das kann jeder Depp." Damit wird zum Ausdruck gebracht, was Slavoj Zizek einst wie folgt formulierte: "Um wirklich in zu sein, mußt Du die Regeln auf eine bestimmte Weise brechen; wenn Du nur in bist, bist Du out."
Es wird also immer schwieriger, stringente Konsummuster bei den Verbrauchern zu erkennen. Die Gesellschaft löst sich im Zuge fortschreitender Individualisierung auf ein Heer von durchschnittlichen Abweichlern - was "Zielgruppen" im Sinne statistisch ermittelter Kundenprofile überkommen erscheinen läßt. Es überrascht daher nicht, wenn die Verbraucheranalyse 1999 feststellt, daß die herkömmliche Marktforschung eklatante Schwächen in der Zielgruppendefinition aufweise. Das heißt, die in der Marktforschung traditionell genutzten Segmentierungsvariablen wie Alter, Geschlecht oder Haushaltsgröße taugen immer weniger als Kriterium zur Beschreibung von homogenen Teilmärkten. Die Lage spitzt sich also zu. Wo die herkömmlichen Formen der Marktsegmentierung plötzlich keine verlässlichen Rückschlüsse auf das Kaufverhalten mehr zulassen, wo folglich die Unvorhersehbarkeit des Bedarfs zum Normalfall wird, existieren Marktrisiken von beträchtlichen Ausmaßen. Zwar wird als aktuelles Heilmittel immer wieder auf den Nutzen "starker Marken" verwiesen oder auf die Segen spendende Kraft von "spektakulären Marketing-Events"; nichtsdestoweniger kommt es auch hier zu bösen Überraschungen. Die Vorstellungswelten und Kaufentscheidungen der Konsumenten erweisen sich häufiger, als erwünscht es sein kann, als Ausdruck von "widerspenstigen Praktiken".Worin genau bestehen nun diese Widerspenstigkeiten? Folgt man Michel de Certeau, so muß der Konsum als zweite Produktion verstanden werden, da erst in der Verwendung eine - praktische und symbolische - Interpretation des jeweiligen Produktes geschieht. Und dabei, so die teils bittere Erfahrung der Hersteller, verwenden die Konsumenten die Dinge oftmals ganz anders, als es in der Gebrauchsanweisung steht. Der kreative Missbrauch, die Umdeutung eines Produkts, ist eine gängige Strategie der Verwender, um mit den Widrigkeiten es Alltags und der Einfallslosigkeit der Hersteller umzugehen. Hier agieren die Kunden letzten Endes ebenfalls wie Bastler, die ideenreich mit ihren begrenzten Möglichkeiten hantieren müssen.
Bastlertum kommt auch darin zum Ausdruck, dass Produkte von ganz anderen Käuferkreisen erworben und genutzt werden, als dies ursprünglich intendiert war. So war die Mercedes A-Klasse von Anfang an weit erfolgreicher bei Senioren als bei der eigentlichen "Zielgruppe" der jungen Familien, der die Marke ein preiswertes Einstiegsmodell offerieren wollte. Viele Kunden im fortgeschrittenen Alter besaßen nämlich nur noch wenig Motivation, sich in flache Coupés zu zwängen und empfanden das Modell als willkommene Gelegenheit, weiterhin Mercedes zu fahren. Ein verwandtes und ebenso schlagendes Beispiel liefern TV-Sendungen. Empirischen Untersuchungen zufolge sitzt fast immer eine andere als die anvisierte Zielgruppe vor dem Fernsehgerät. So werden manche Jugendsendungen vorzugsweise von über 60-jährigen konsumiert, die wissen wollen, was sie ihren Enkeln zu Weihnachten schenken sollen. Auch Alter schützt also vor Zweckentfremdung nicht. Und schließlich äußert sich das Bastlertum nicht zuletzt darin, daß zwar Unternehmen einerseits versuchen, ihre Produkte und Marken mit quasi beliebigen Bedeutungen aufzuladen, die Konsumenten aber postwendend diese in ebenso beliebiger Weise wieder für sich um deuten.
Basteln ist also unter den Bedingungen fortgeschrittener Individualisierung zum universellen kulturellen Prinzip geworden. Jan Engelmann schreibt daher in seinem Buch unter der Überschrift "Im Baumarkt der Existenz" folgendes: "Identität [wird] ... als das Ergebnis eines Bastelprozesses angesehen, für den die Kultur ein ganzes Arsenal von Symbolen, Ritualen und Praktiken bereitstellt, aus dem der einzelne schöpfen kann. Kultur ist gewöhnlich und außergewöhnlich zugleich, weltlich in ihrer Durchdringung des Alltagslebens und transzendierend in ihrem Potential für Erfindungsreichtum und Improvisation."
Der Konsum als Identitätsproduktion Was wir anhand der vorangegangenen Beispiele deutlich sehen können, ist, daß das Identitätsbasteln unter Bedingungen fortgeschrittener gesellschaftlicher Individualisierung massiv von der Konsumsphäre getrieben wird. Insbesondere die posttraditionalen Gemeinschaften, also Szenen und Communities, sind zumeist Konsumgemeinschaften, egal ob im Sport oder in der Kultur. Konsum als Treiber von Identitätsformierung ist auch insofern sehr schlagkräftig, als sich Konsumenten unserer Erfahrung nach nicht nur durch diejenigen Produkte und Marken definieren, die sie konsumieren. Mindestens ebenso stark ist die Definition über das, was man nicht konsumiert: diese Marke nicht, weil ..., jene Marke auch nicht, weil ...; wenn man genau überlegt, sind ja auch die meisten Marken ziemlich uncool und bewerkstelligen damit identitätsstiftende Negativ-Abgrenzung. In Zeiten, in den sich Identitäten primär über das Arbeitsleben herausbildeten, waren dagegen solche Abgrenzungsprozesse weit weniger ausgeprägt.
Mit diesem Zwischenstand ist jedoch noch nicht der Endpunkt erreicht. Der Kulturtheoretiker Boris Groys liefert eine bemerkenswerte Volte, wenn er die Produktionsweise von Künstlern, die er zu einer ökonomischen Avantgarde zählt, als Konsumtionsprozess beschreibt. Denn für den Künstler als professionellen Produzenten von Innovationen gilt:
- Er ist weniger Produzent als vielmehr exklusiver vorbildlicher Konsument bereits zirkulierender Dinge. - Er fokusiert sich auf neue Haltungen, Konsummuster und Wünsche.- Sein Schaffen besteht in der Konsumtion von Gegenständen - inklusive ihrer Umgestaltung - auf besonders interessante Art und Weise.- Seine zentralen Aufgaben heißen Sammeln, Selektion, Geschmacksdesign.
Bei genauerem Hinsehen gelten solche Grundzusammenhänge nicht nur für die Produktion von Kunst, sonder auch für die Produktion von Wissenschaft, die auf ganz ähnliche Weise die Züge avantgardistischen Konsums - beispielsweise von Daten, Theorien, Konzepten - annimmt. Und auch das wird nur einen Zwischenstand markieren.
Das legt Verallgemeinerungsmöglichkeiten nahe, die nicht jedem angenehm erscheinen mögen. Denn wo bei Michel de Certeau der Konsum noch als zweite Produktion und als taktisch operierender Bastelprozess verstanden wurde, handelt es sich bei der Produktion im Sinne von Groys um einen Fall von "Consuming Identities" - und zwar im doppelten Sinn des Wortes. Konsum ist dann nicht mehr nur ein Mittel zur Realisierung einer Identität, sondern die Realisierung und Produktion der Identität höchstselbst. Wo immer also von der Zukunft des Konsums geredet wird, ist streng genommen die Zukunft produktiver Arbeit gemeint. |