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Irina Kaldrack: "Rekonstruktionen historischer Interferenzen von Theater und optischen Medien. Der Raum der barocken Maschinenbühne" um 21.00h am 6.09.04
im barock wird durch die einführung der perspektive der theatrale raum zum bild. das neue modell des auges verändert die vorstellung des sehvorgangs: sehen setzt nun an der repräsentation des außen, dem netzhautbild, an. wie weit hängen mathematische konstruktionen, naturwissenschaftliche erkenntnisse und die (auch) in der theatralen praxis der barocken kulissenbühne entwickelten strategien des umgangs mit diesem (raum)bild bis heute mit unserer raumvorstellung und wahrnehmung zusammen?
Hauptthese:
Die barocke Kulissenbühne lässt sich als eine Sichtanlage auffassen, die entlang des zeitgenössischen Augenmodells, sprich der Entdeckung des Netzhautbilds durch Kepler, konzipiert ist. Diese Sichtanlage, die Ende des 17./Anfang des 18. Jh. von Andrea Pozzo beschrieben wird, erscheint vor dem Hintergrund von Descartes Erkenntnistheorie als ein Apparat der Descartschen Methode: eine Organisation von Produktion und Rezeption, die auf einen Betrachter zielt, der strukturell dem Descartschen Erkenntnissinn entspricht.
1. malerische Zentralperspektive
Die malerische Zentralperspektive ist eine malerische Methode, wie dreidimensionale Gegenstände auf einer zweidimensionalen Fläche dargestellt werden müssen, so dass die Darstellung einem bewegungslosen Auge denselben Seheindruck erzeugt wie die eigentlichen Gegenstände. Erfunden und vorgestellt wurde diese Praxis ca 1435 in Florenz durch Brunellesci.
Das Prinzip der malerischen Zentralperspektive basiert im Wesentlichen auf der zweifachen Anwendung des zweiten Strahlensatzes, angewandt auf das Verhältnis von Gegenstand, Auge und abgebildetem Gegenstand. Damit lässt sich bei bekannten Positionen von Betrachterauge und "echtem" Gegenstand einfach berechnen, in welcher Form, Größe und Position die Gegenstände auf der Bildfläche dargestellt werden müssen.
2. Keplers Netzhautbild (veröffentlicht 1604):
Mit der Durchsetzung der malerischen Zentralperspektive als die einzig "richtige" Darstellung, setzt sich die Vorstellung durch, dass Sehen perspektivisch stattfindet. Mit der Entdeckung des Netzhautbilds durch Kepler ist diese Vorstellung "bewiesen".
Allerdings, und das ist entscheidend, überträgt sich bei Keplers Modell des Auges kein Bild mehr von Außen, vom Gegenstand, nach Innen ins Auge. Das Netzhautbild entsteht durch die Bündelung von Lichtstrahlen, die von der Pupille geschnitten werden.
Damit ist klar, dass Sehen entlang der perspektivischen Regeln geschieht. Da das Bild aber im Auge entsteht und auf dem Kopf steht, wird es unsicher, wie man vom Seheindruck auf einen Raum bzw. Entfernungen zurückschließen kann. Kepler geht von einer Art "Betrachter-im-Auge" aus, der aufgrund von Sehwinkel und Abstand der zwei Augen berechnet, an welcher Position sich gesehene Objekte im Raum befinden.
3. Barocke Kulissenbühne
Anfang des 17. Jh. werden zum ersten Mal nur Kulissen als Bühnendekoration verwandt, ab Mitte des 17. Jh. setzt sich dieses System der Kulissenbühne in Europa durch, gleichzeitig mit der Entwicklung, dass feste Theatergebäude errichtet werden, deren Innenräume keine Fenster mehr besitzen.
Die Kulissenbühne wird von Andrea Pozzo in seinem einflussreichen Werk "Prospettiva de' Pittori et Architetti" (2 Bände, 1693 -- 1700) ausführlich beschrieben. Entscheidend ist, dass Pozzo das unbewegliche Betrachterauge, auf das die Kulissenbühne hin ausgelegt, berechnet und gemalt wird, auf der Wand hinter den Zuschauern angebracht ist, der "unmögliche Zuschauer". Auf der gegenüberliegenden Wand, am hinteren Abschluss der Bühne, ist der Fluchtpunkt angedacht. Der hintere Abschluss des Proszeniums bzw. der vordere Abschluss der Kulissenbühne liegt genau zwischen Flucht- und Augenpunkt. Die vier Kulissenpaare sind rechts und links auf der Bühne entlang der Fluchtlinien nach hinten gestaffelt, die innere Kante der Kulissenteile ist nach hinten ausgelenkt. Pozzo gibt ein Verfahren an, wie man die Kulissenteile so bemalt, dass sie für den "unmöglichen" Zuschauer einen geschlossenen Seh- bzw. Bildeindruck erzeugen. Dabei werden einzelne Motive über mehrere Kulissenteile hin ausgeführt (eine Neuerung Pozzos gegenüber älteren Kulissenbühnen).
Der Zuschauer in Pozzos systematischem Bühnenraum korreliert mit Keplers "rechnenden Gesichtssinn" oder "Betrachter-im-Auge": Bildfragmente, die zu einem geschlossenen Seheindruck zusammengesetzt werden, werden als Raum betrachtet. Der Raum, der sich im Seheindruck herstellt ist ein nichtexistenter Raum, der Seheindruck simuliert einen Raum. Allerdings kann kein realer Zuschauer den richtigen Seheindruck erhalten (nur der unmögliche Zuschauer). In gewisser Weise scheint die barocke Kulissenbühne damit ihr konsturieren auszustellen und die Täuschung zu verunmöglichen. Zum Komplex von Schein und Sein, den die barocke Kulissen- und Maschinenbühne auch inhaltlich verhandelt, scheint der Rückgriff auf Descartes sinnvoll.
4. Descartes
Descartes überträgt das Modell des Netzhautbilds auf alle Sinneswahrnehmungen. Gleichzeitig, und das ist der entscheidende Punkt, entwickelt er eine Erkenntnistheorie, in der "richtiges" Denken als Operationen auf und mit Repräsentationen modelliert ist -- man könnte dieses Denken als figuratives Denken charakterisieren. Die Erkenntniskraft kann nach der entwickelten Methode aus Repräsentationen richtige Schlussfolgerungen ziehen.
Das grundlegende Täuschungsproblem (ob alle Sinneseindrücke nur Täuschungen sind) lässt sich innerhalb der Erkenntnismethode durch den Existenzbeweis des nicht-täuschenden Gottes lösen. Damit ist es der Erkenntniskraft grundsätzlich möglich, Wahrheiten über Dinge außerhalb des denkenden Ichs zu schlussfolgern.
Allerdings ist nicht auszuschließen, dass irgendwelche Sinneseindrücke täuschen. Grundsätzlich muss diesen Täuschungen durch die Erkenntniskraft beizukommen sein, da sie als natürliche Phänomene Naturgesetzen unterliegen (welche nicht täuschen, wenn man sie richtig begriffen hat). Auch die vom Menschen hergestellten Täuschungen verdanken ihren Effekt diesen Naturgesetzen. Ist also die Konstruktionsweise der täuschenden Zeichen bekannt, entgeht der erkennende Verstand der Täuschung.
5. Schlussfolgerungen
An diesem Problemfeld von Repräsentation, Täuschung und richtigem Denken scheint mir das Theater der barocken Maschinenbühne anzusetzen. Vor dem Hintergrund des naturwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Wissen der Zeit lässt sich dieses Theater als ein Feld auffassen, in dem Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen konstituiert werden, die es ermöglichen sollen, den Umgang mit schnell wechselnden Repräsentationen ("Bilder", Allegorien, Inschriften) zu erlernen.
Das Theater der barocken Kulissen- und Maschinenbühne würde im Sinne der Descartschen Erkenntnistheorie funktionieren. Der methodisch richtige Umgang mit den Repräsentationen ermöglicht wahre Erkenntnis. Demnach versetzt die barocke Kulissenbühne als Schauanlage (wie von Pozzo beschrieben) zusammen mit den Darstellungsmodi der theatralen Praxis den Zuschauer in die Position des Descartschen handelnden Erkenntnissinns (Verstand): er muss die Sinneseindrücke, die das "tote Auge" liefert, diszipliniert (affektbeherrscht) betrachten und kann daraus richtige Schlussfolgerungen auf die Ordnung hinter den Repräsentationen folgern. Der "unmögliche Zuschauer" Pozzos wäre dann so etwas wie die Sollbruchstelle des Täuschungsapparats, weil niemand den Platz einnehmen kann, an dem die Täuschung perfekt ist.
Die "Theatrum Mundi"-Metapher erlangt ihre Wirkkraft im Barock genau daraus, dass die Welt nur in Repräsentationen zu haben ist und das Theater insofern Welt adäquat repräsentieren kann. Das Theater entwickelt seine Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen passend zur geltenden Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie und formt sie darin spezifisch aus. Als Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen steht diese Ausformung dem Zuschauer als adäquate Betrachtung, Beurteilung und Be-Handlung der Welt (als Theater) zur Verfügung.
Allerdings: Die Erkenntnistheorie Descartes nimmt eine Formalisierung des Denkens vor, die gewissermaßen unsemantisch auf Operationen mit Zeichen fußt und löst gleichzeitig das Täuschungsproblem in Rückgriff auf Gott. Die Barockbühne visiert das Täuschungsproblem an und entscheidend für ihre Zeichenkonstitution ist genau deren Bedeutung, die vom Menschen zugewiesen ist.
Genau diese Verschiebung scheint mir zentral in der barocken Theaterpraxis zu sein. Der theatrale Apparat von Netzhautbild und Erkenntnismethode versetzt den Menschen in eine zentrale Stellung, die durch die Theorie des Netzhautbildes zumindest bedroht ist und in Descartes Erkenntnistheorie m.E. "nur" durch die handelnde Erkenntniskraft (als einer Art Subjektinstanz) gerettet wird.
Erstens wird "der Mensch" in Form des Bühneningenieurs in der Beherrschung der Maschinen- und Kulissenbühne als Simulation von Welt und deren Gesetzen Herrscher über die Scheinhaftigkeit von Welt und deren ständige Veränderungen. Zweitens wird der Zuschauers zum "Dekodierer" von Welt (die sich in Repräsentationen abbildet) in Bezug auf eine unsichtbare Ordnung, in der "der Mensch" seinen zentralen Platz hat.
6. Raum und "Sehen"
Der Raum der barocken Kulissenbühne ist als ein Raum, in dem Bilder (Fragmente von Bildern) in einer räumlichen Anordnung organisiert werden, damit ein Raumeindruck simuliert werden kann. Der Unterschied zum gemalten Bild ist, dass die Bildteile in den Raum gestaffelt werden und durch die Bühnenmaschinerie schnell verwandelt, bewegt werden.
Dem korrespondiert auf Seiten der Zuschauer als idealer Zuschauer ein bewegungsloser Zuschauer (in der Realität war der barocke Zuschauer weniger bewegungslos). Man kann sagen, dass die bewegten Raumbilder mit ihren schnellen und häufigen Verwandlugen auf ein überwältigtes Auge zielen, eines, das den wechselnden Sinneseindrücken kaum folgen kann und welches darüber hinaus den Wunsch nach Überblick über und Durchschauen dieser wechselnden Sinneseindrücke hat. Der Zuschauer als Besitzer dieses überwältigten Auges soll bewegungslos werden im Vergessen seiner körperlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse und sich ganz auf das Durchschauen von Täuschungen und die Beurteilung der Sinneseindrücke entsprechend der Descartschen Methode konzentrieren.
Das "Sehen" der barocken Kulissenbühne ist also folgendermaßen modelliert: in und von einem bewegungslosen (toten) Auge werden schnell wechselnde Bilder produziert. Das sehende Subjekt betrachtet und bewertet diese Bilder in Hinblick auf den simulierten Raum und den "Inhalt", auf den sie als konstruierte Zeichen verweisen.
Zu überlegen wäre in diesem Kontext, ob die Staffelung der Kulissenteile in die Tiefe und der "unmögliche" Zuschauer eine spezifische Funktion als "Sehtraining" haben. Da kein Zuschauer den "richtigen" Seheindruck des "unmöglichen" Zuschauers bekommt, könnte es sein, dass die tatsächlichen Seheindrücke der realen Zuschauer zunächst zu diesem geschlossenen Seh- oder Bildeindruck imaginiert werden müssen, bevor sie dann quasi auf den simulierten Raum "zurückgerechnet" werden. |