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Vortrag in Wien am 29.11.04 im Rahmen der Vortragsreihe der firma raumforschung/theatercombinat
Martina Löw
Raumsoziologie
Sehr geehrte Damen und Herren!
Raum galt lange Zeit als vernachlässigtes Thema sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. In den letzten fünf Jahren erscheinen auf einmal eine Vielzahl von neuen Publikationen. Die Autoren und Autorinnen artikulieren darin entweder Überlegungen zu einem neuen Raumverständnis oder kommen durch empirische Ergebnisse zu der Schlussfolgerung, dass sich Raumbezüge verändert haben.
Der Raum ist zum Problem geworden. Durch gesellschaftliche Globalisierungsprozesse, neue Informations- und Freizeittechnologien und auch durch die massenhafte Nutzung schneller Verkehrsmittel haben sich empirisch nachweisbar Raumbezüge verändert.
Ich möchte heute in meinem Vortrag zunächst noch einmal den Blick zurück und in andere Disziplinen richten und vergegenwärtigen, wie sich das Bild vom Raum interdisziplinär in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Da diese Entwicklungen hin zu einem relationalen Raumverständnis in der Physik und Mathematik, aber auch in der Kunst, die Sozialwissenschaften so lange unbeeinflusst gelassen hat, möchte ich im zweiten Schritt fragen, über welche gesellschaftlichen Veränderungen oder empirischen Phänomene solche Disziplinen wie die Sozial- und Kulturwissenschaften, aber auch die Erziehungswissenschaft gestolpert ist, dass sie schließlich begonnen haben, ihr grundlegendes Verständnis von Raum zu revidieren. Ich schließe mit einem Ausblick auf einen relationalen Raumbegriff, der gesellschaftstheoretisch fundiert ist.Definititonsfragen
Das Bild vom Raum, welcher wie eine Schachtel oder ein Behälter die Dinge, Lebewesen und Sphären umschließt, stammt ursprünglich aus der Antike. So ist zum Beispiel die Aristotelische Vorstellung die eines endlichen - durch die Fixsterne begrenzten - Raums. Dieser Raum ist überall dicht gefüllt. Sein Zentrum bildet die unbewegliche, kugelförmige Erde. Um sie herum befinden sich bis hin zum Mond die Elemente Wasser, Luft und Feuer, welche in konzentrischen Kreisen angeordnet sind. Jenseits des Mondes bewegen sich die übrigen Planeten im endlichen Raum (vgl. Sturm 2000). Einstein hat diese Raumvorstellung mit der Kurzformel "container" (Einstein 1960, XIII) verbildlicht, was in der deutschen Rezeption mit „Behälterraum“ übersetzt wird.
Spätestens im 17. Jahrhundert wird deutlich, dass das Verhältnis von Himmel und Erde wesentlich komplizierter ist, als es das damals immer noch dominante Aristotelische Raumbild in seinem Geozentrismus vorsieht. Himmel und Erde können gedanklich nicht mehr verbunden werden, bis Newton die Gültigkeit der irdischen Naturgesetze auch für den Himmel beweist und damit nicht nur physikalische Probleme, sondern auch religionstheoretische Fragen und Ängste bearbeitete.
Isaac Newton lebt von 1643 bis 1727, also in einer Zeit großer sozialer Umbrüche. Der dreißigjährige Krieg geht 1648 zu Ende. Die Menschen hungern. Langsam entsteht der vorindustrielle Kapitalismus und mit ihm viele technologische Entwicklungen. Das Bürgertum beginnt sich herauszubilden. Die Chirurgie entwickelt sich zur Wissenschaft und ist an der Etablierung von Konstruktionen des räumlichen Körpers maßgeblich beteiligt; mythische Körperbilder werden schleichend in den Hintergrund gedrängt.
In dieser Zeit entwickelt Isaac Newton die Vorstellung von einer homogenen unendlichen Welt. Eine seiner grundlegenden Definitionen, durch welche die Vorstellung vom Raum als Behälter erneut gestützt wird, obwohl Newtons Modell eigentlich Unendlichkeit vorsieht, ist die vom „absoluten Raum“:
„Der absolute Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendetwas außer ihm existiert, bleibt sich immer gleich und unbeweglich“ (Newton 1988, 44, original 1687).
Newton entwirft Raum als eine von den Körpern selbständige Realität. Dies war, wie Carl Friedrich von Weizsäcker betont, keineswegs selbstverständlich, sondern das Ergebnis einer Abstraktionsleistung, die erst Newton in dieser Präzision vollbringt (von Weizsäcker 1986, 237). Durch diese Absolutsetzung, die Newton in seinen Schriften durch den „relativen Raum“ ergänzt, wird die Vorstellung vom container nicht wirklich in Frage gestellt. Der Raum bleibt ein Behälter, der mit verschiedenen Elementen angefüllt werden kann, jedoch auch als "leerer Raum" existent bleibt. Damit erhält zum einen die Vorstellung vom starren, unbeweglichen Raum, die das Denken bis heute leitet, erneut Gewicht, zum anderen entsteht mit der Idee der Leere die Vorstellung der beliebigen Möglichkeiten, Raum einzurichten (Sturm 2000).
Wesentlich ist dabei aber auch, dass Newtons Mechanik ohne die Setzung von absolutem Raum ausgekommen wäre. Über die Gründe, warum er trotzdem auf diese Konstruktion, wie auch auf die Annahme von „absoluter Zeit“, zurückgreift, herrscht in der heutigen wissenschaftlichen Rezeption Uneinigkeit. Es mag sein, dass Newton, wie Max Jammer (1960) und Gabriele Sturm (2000) annehmen, in seiner Theorie die Existenz von "absoluter Zeit" sowie "absolutem Raum" unterstellt, um in der nun als unendlich gedachten Welt noch einen Punkt der Ruhe bestimmen zu können, von dem aus Bewegung gemessen werden kann. In jedem Fall dient die Setzung dazu, sich gegen den Vorwurf des Atheismus zu schützen. Newtons religionstheoretische Schriften zeigen, daß theologische Überlegungen bei der Definition von „absolutem Raum“ eine entscheidende Rolle gespielt haben. Gideon Freudenthal (1982) zufolge steht Newton unter dem Druck der Schöpfungsgeschichte, in der Gott im leeren Raum die Welt erschaffen hat. Newton unterstreiche "die Freiheit Gottes, Welten nach Belieben, d.h. vollkommen frei zu erschaffen" (Freudenthal 1982, 272). In der Vorstellung Newtons ist der Raum eine Naturgegebenheit, die nur durch Gott wieder aufgelöst werden kann.
Newtons Vorstellung vom absoluten Raum bleibt bereits zu seiner Zeit nicht unangefochten. Vor allem Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wendet sich in einem Briefwechsel mit Samuel Clark, welcher sich zum Verfechter von Newtons Ideen erhebt, gegen die Vorstellung, es gäbe einen selbständigen Gegenstand „Raum“ und betont statt dessen die Räumlichkeit der Körper. In seinem dritten Brief schreibt Leibniz: „Ich habe mehrfach betont, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte; für eine Ordnung der Existenzen im Beisammen, wie die Zeit eine Ordnung des Nacheinander ist“ (Leibniz 19663, original 1715/1716, 134). Raum ist für Leibniz der Inbegriff möglicher Lagebedingungen überhaupt. Von Weizsäcker formuliert die Konsequenzen dieser Raumvorstellung:
„Man dürfte dann strenggenommen nicht sagen: ‘dieser Körper befindet sich an diesem Ort’, sondern nur: ‘er befindet sich, von jenem anderen Körper aus gesehen, an diesem Ort’“ (von Weizsäcker 1990, 138).
Newtons Mechanik (wie im Übrigen auch Kants Raumbegriff) basieren auf der Grundannahme, dass Raum über die euklidische Mathematik bestimmbar sei. Um 1830 zeigen drei Mathematiker (Carl Friedrich Gauß, Nicolaj Iwanowitsch Lobatschewskij und János Bolyai) unabhängig voneinander die Möglichkeiten einer nichteuklidischen Geometrie auf. Mit der Erkenntnis, dass es nicht nur eine einzig logische Geometrie geben kann, verändert sich auch die Einstellung zum Raum. Das Kantsche a priori, demzufolge Raum ein vor Erfahrung liegendes Prinzip ist, welches Ordnungen im Sinne der euklidischen Lehrsätze produziert, kann in diesem Sinne nicht mehr zutreffen. Wie Gabriele Sturm in ihrer methodologischen Habilitationsschrift „Wege zum Raum“ (2000) aufzeigt, stößt zwar die nichteuklidische Geometrie zunächst auf Unverständnis, erhält dann jedoch eine hohe Plausibilität aus der Erkenntnis, dass die gekrümmte Erdoberfläche nicht euklidisch sein kann. Für das Universum zeigt kurz darauf Albert Einstein (1879-1955), dass dessen Geometrie nicht euklidisch ist.
Für die Theorie des Raums bedeutet die Relativitätstheorie, dass der metaphysischen Konstruktion des absoluten Raums gänzlich die wissenschaftliche Basis entzogen wird. Dies betrifft nicht die Newtonsche Theorie im Allgemeinen, die schließlich auch ohne die Setzung des absoluten Raums plausibel formuliert werden kann, sondern nur die Absolutsetzung von Raum. In der Physik wird das Einsteinsche Modell vom Raum als "Lagerungs-Qualität der Körperwelt" (Einstein 1960, XIII) zum allgemein gültigen Modell, welches die Newtonsche Mechanik als Spezialfall integriert. Die Lageverhältnisse, die den Raum bilden, werden von Einstein als in stetiger Bewegung befindlich analysiert. Der Raum ist die Beziehungsstruktur zwischen Körpern, welche ständig in Bewegung sind. Das heißt, Raum konstituiert sich auch in der Zeit. Raum ist demnach nicht länger der starre Behälter, der unabhängig von den materiellen Verhältnissen existiert, sondern Raum und Körperwelt sind verwoben. Der Raum, das heißt die Anordnung der Körper, ist abhängig vom Bezugssystem der BeobachterInnen.
2. Sozialwissenschaften
All diese Erkenntnisse haben jedoch lange die Sozialwissenschaften unberührt gelassen. Man dachte den Staat, die Stadt oder den Körper als geschlossenen Raum. Doch dann mehrten sich Erfahrungen mit dem Internet, mit Globalisierung und auch mit Jugendkulturen, die dieses homogene Raumbild zerstörten, die – schlicht und einfach – es unmöglich machten, mit einem Behälterraumbild verstanden zu werden. Dies kann zunächst am Thema der Globalisierung erläutert werden.
Fokussiert man in Globalisierungsuntersuchungen auf die räumlichen Dimensionen der Kultur, so zeigt sich bald, dass der globale Strom kultureller Güter (Musikhits, Kleidung, Nahrung etc.) wie auch der Strom finanzieller Transaktionen gleichzeitig lokale Räume verändert, lokal spezifisch verarbeitet wird und doch weder durch die Analyse lokal geschlossener noch durch die global homogener Räume sinnvoll möglich ist. Saskia Sassen (1994, 1996) analysiert das Verhältnis globaler Räume und lokaler Ausformungen am Beispiel der sich wandelnden finanz- und unternehmensbezogenen Dienstleistungen. Sie arbeitet heraus, dass sich einerseits transnationale Räume bilden, wie zum Beispiel die Offshore-Bankenzentren und neue globale Finanzmärkte, die dem staatlichen Einfluss fast gänzlich entzogen sind, andererseits sich diese transnationalen Räume innerhalb nationalstaatlicher Hoheitsgebiete befinden und demzufolge den jeweiligen gesetzlichen Regelungen unterliegen. Dabei stellt sie fest, dass sich der Dualismus von Nationalstaat und Weltwirtschaft zu einem Dreieck verschoben hat, in dem die dritte Position durch „Global Cities“ eingenommen wird. Diese erfüllen Steuerungsfunktionen für global angelegte wirtschaftliche Transaktionen. Sie werden zu transnationalen Marktplätzen. Einerseits sind sie eindeutig national verortet: Sie unterliegen nationaler Gesetzgebung und bieten eine Vielzahl von Arbeitsplätzen jenseits der tendenziell mobilen Managerposten, da sich in ihnen finanz- und unternehmensbezogene Dienstleistungen konzentrieren (z. B. die Arbeit von SekretärInnen oder RaumpflegerInnen). Andererseits sind global cities jedoch nicht länger nur „Untereinheiten ihrer jeweiligen Nationalstaaten“ (Sassen 1996, 11), da sie mit anderen global cities so eng verknüpft sind, dass diese Städte untereinander mehr Gemeinsamkeiten aufweisen, als sie zu anderen Regionen ihres jeweiligen Nationalstaates entwickeln.
Die Konstitution von Raum geschieht vielmehr gleichzeitig lokal und global. Raum entsteht im Plural. Global ist der Raum durch elektronische Vernetzung charakterisiert. Dieser Raum des Cyberspace basiert jedoch auf lokal gebundenen ebenfalls raumbildenden Aktivitäten. Institutionalisierte räumliche (An)Ordnungen wie die Relationen zwischen geographisch nahe liegenden Städten verschieben sich durch globale Einflüsse. Neue Räume entstehen zwischen einzelnen, privilegierten Städten. Auch innerhalb der Städte sind Veränderungen der etablierten Räume beobachtbar. Die einheitliche, konzentrisch strukturierte europäische Stadt wandelt sich.
Aber nicht nur globale Finanzströme auch Aktivitäten regionaler Jugendkulturen irritierten Behälterraumvorstellungen. Birgit Richard und Heinz-Hermann Krüger (1997) untersuchen die Techno-Jugendkultur in Hinblick auf imaginäre Räume und reale Räume. Die Technomusik spricht ein breites Publikum, Mädchen wie Jungen und unterschiedliche soziale Schichten an. Zum Tanzen und Feiern treffen sich diese Jugendlichen nicht nur in Diskotheken und bei jährlichen Paraden sondern auch an schnell wechselnden Orten, die häufig nur für eine Nacht gemietet sind. Die Orte werden durch Flugblätter und Plakate bekannt gegeben. Lagerhallen, Bunker, Tresore, alte Elektrizitätswerke und Fabrikgebäude werden besonders gerne zu Tanzorten umgestaltet. Illegale Treffpunkte wie Autobahnbrücken, Tiefgaragen und Baustellen sind eher in der englischen Subkultur zu finden. Die Techno-Szene zieht sich am Wochenende stundenweise oder ganz in diesen Räumen zurück. Der 24-Stunden-Rythmus, also Zeit, wird mit Hilfe von Drogen außer Kraft gesetzt. Auch Raum wird verändert. Er verwandelt sich in einen „immateriellen Kosmos, in eine Parallelwelt, die Ähnlichkeit mit computererzeugten virtuellen Realitäten hat“ (Richard/Krüger 1997, 6). Richard/Krüger betonen, daß die jugendlichen und jungen Erwachsenen sich in einen Raum begeben, dessen Grenzen sie auflösen, indem diese Grenzen in der Dunkelheit verschwinden. Technische Effekte, künstlicher Nebel und Schwarzlicht erzeugen eine Bildschirm-Atmosphäre in der realen Welt, ein quasi nach außen gestülpter Bildschirm. Das Farbspektrum wird auf bestimmte Farben reduziert, vor allem viel weißes Licht und Stroboskopblitze. Die sich bewegenden Körper werden in punktuelle Lichterscheinungen aufgelöst. Mit dem Stroboskop wird auch die euklidisch geschulte Raumwahrnehmung durchbrochen. Die Tanzenden begeben sich bewußt in den Zustand der Desorientierung. Raum wird durch „Auflösung von Gegensätzen und Gegenständen“ (Richard/Krüger 1997, 7) bestimmt. Es gibt keine Extra-Tanzfläche, überall wird getanzt. Die Räume werden genutzt, aber nicht festgehalten. Ihne haftet etwas flüchtiges an. Auch die Musik-Videos, die im Fernsehen gezeigt werden, sind Computersimulationen durch virtuelle Welten. Fliegen und Schwerelosigkeit sind beliebte Motive.
Mit dieser Entwicklung der Tanzkultur einher geht ein Experimentieren mit Körperbildern. Die Körperoberfläche wird gestaltet nach Bildern von Androgynität und Kindlichkeit oder in Anlehnung an Körperbilder der Lesben- und Schwulenkultur. Licht, Musik und Drogen verändern das Materialitätsgefühl zum Körper und helfen die Bewegungen zu beschleunigen. Das Raumbild eines Behälters, welches auch die Körperwahrnehmung leitet, wird gezielt attackiert. Der sich auflösende Körperraum ist eine Erfahrung, die Jugendliche gezielt suchen.
Neben diesen spektakulären Beobachtungen sind es aber auch ganz alltägliche Raumerfahrungen, die die Neugier auf Räume in den Sozial- und Kulturwissenschaften neu geweckt haben. 1997 überrascht die Zeitschrift „theory and society“ mit einem Beitrag von Michael Mayerfeld Bell, in dem er das Argument entwickelt, dass Geister im Sinne der Präsenz von demjenigen, was nicht physisch da ist, ein untrennbarer Aspekt der Phänomenologie von Ort ist. Mayerfeld Bell argumentiert, dass Menschen Shrine mit der Bedeutung von Originalität belegen. Die Aura eines nun entkörperten Geistes ist dort anwesend. Das Gleiche vollziehe sich mit Orten im Allgemeinen. In der Erfahrung eines Ortes nehme man die frühere Anwesenheit von Personen wahr und eben dies mache den Ort zu einem heiligen oder einem profanen Ort.
An bekannten alltagskulturellen Beispielen belegt der Autor seine Argumentation: Wenn man ein neues Büro bezieht, hört man erst mal in vielen Geschichten, wer früher schon dort gearbeitet hat. Dann beginnt die Tätigkeit der Geistaustreibung. Man putzt, wirft die alten Bleistifte und heruntergefallene Papiere weg, schiebt den Schreibtisch ein wenig zur Seite, positioniert das Regal neu. Andere kommen und geben Ratschläge, wie sie die Dinge anordnen würden. Sie erzählen von den Geistern des Raums. Man selbst versucht dem Raum einen neuen Geist zu geben: Den eigenen.
Aber auch andere soziale Besetzungsvorgänge sind denkbar. Ein enger Freund von Mayerfeld Bell verstirbt plötzlich. Mayerfeld Bell arbeitet an diesem Tag in seinem Büro. Er weiß noch nichts von dem tragischen Tod. Gegen Abend verlässt er für fünf kurze Minuten sein Büro. In dieser Zeit bricht sein Regal zusammen, Berge von Büchern liegen verstreut auf dem Boden, ebenso ein eiserner Ventilator, welcher zuvor auf dem obersten Bücherregal lag. Hätte er nicht den Raum verlassen, wäre er durch die Dinge vermutlich erschlagen wurden. Zur gleichen Zeit wurde kein Erdbeben gemessen, werden keine Bauarbeiten in der Nähe verrichtet – nichts kann den Fall erklären. Vergleichbare Regale stehen in vielen Zimmern. Sie sind nicht umgefallen. Zunächst wird die Angelegenheit als „eines dieser merkwürdigen Geschichten“ beiseite geschoben. Später erfährt Mayerfeld Bell von dem ungerechten und unverständlichen Tod des Freundes. Und plötzlich tauchen Fragen wie: „Wollte er mich warnen, nicht zu viel Lebenszeit im Büro zu verbringen?“.
Geister sind soziale Konstruktionen, schließt der Autor. Menschen belegen Orte mit ihrem Spirit. Als solche sind sie Teil der Alltagskultur. So sehr sie auch ein Produkt sozialer Phantasie sein mögen, bevölkern diese Geister doch die Orte, hauchen ihnen Leben ein und beeinflussen durch die Wirksamkeit der Konstruktion das Handeln.
Räume sind, so möchte ich abschließend aus diesen Fallbeispielen schlussfolgern, besser als stets neu zu produzierende und reproduzierende (An)Ordnungen zu verstehen, welche aus sozialen Gütern und Lebewesen bestehen. Identitätszuschreibung erfolgt über die Eingliederung in Räume sowie umgekehrt Raum nicht mehr von der Aktivität des Konstituierens und damit von einer Handlungspraxis losgelöst werden kann. Auf die Formel gebracht heißt das: Räume sind stets neu zu konstituierende relationale (An)Ordnungen sozialer Güter und Lebewesen. Ihre Konstitution basiert auf zwei, in der Regel aufeinander folgenden Prozesse, der Syntheseleistung, also der Verknüpfung wahrgenommener oder vorgestellter sozialer Güter wie auch Lebewesen zu einem Ganzen, das sich als Raum formiert, und einer Platzierungspraxis jener Güter und Lebewesen, genannt Spacing.
Die meisten räumlichen (An)Ordnungen sind institutionalisiert und werden entweder durch Zäune, Mauern etc. abgesteckt, durch symbolische Zeichen markiert oder durch Erfahrungswissen vermittelt. Diese zu Institutionen materialisierten räumlichen Arrangements verfestigen sich zu Anordnungsstrukturen der Gesellschaft. Sie strukturieren das Handeln vor. Gleichzeitig existieren sie auf Dauer nur, weil im Handeln individuell und kollektiv auf sie Bezug genommen wird. Raum bringt Ordnungsformen hervor, die in aktiven Platzierungen rekursiv reproduziert werden.
Die Platzierungen und Syntheseleistungen erfolgen lokal spezifisch. Sie sind mit vielfältiger Bedeutung aufgeladen. Über sie werden gesellschaftlicher Machtverhältnisse ausgehandelt, verfestigt oder verschoben. In einer technologisch vernetzten Welt werden bei der Konstitution von Räumen nicht selten virtuelle Orte einbezogen.
Unter Bedingungen von Globalisierungsströmen und multimedialer, elektronischer Vernetzung macht es schon langer keinen Sinn mehr, sich Raum als umschließenden Behälter, als Untergrund oder Hintergrund des Handels vorzustellen, wie es kulturelle Überlieferungen in westlichen Gesellschaften nahe legen. Einem solchen territorialen Raum könnte in der modernen Gesellschaft nur noch geringe Bedeutung beigemessen werden. Die vielfältigen Grenzziehungen zwischen Ländern und Menschen, die Anordnungen der Gebäude zueinander, die Konstruktionen, die einer Wohnung zugrunde liegen, sowie die Ensembles der Einrichtung lassen vielfältige, nicht-territoriale Räume entstehen, die Alltag strukturieren; in einer global sich orientierenden Welt ist die Produktion von Raum nicht nur eine Bezugnahme auf die stets umgebenden Arrangements, sondern gleichzeitig eine Lokalisierung in einem zum Kulturkreis synthetisierten Raum.
Marc Ries (2001) macht in Bezug auf September, Eleven darauf aufmerksam, dass über die Medien und hierbei insbesondere über die 1000fache Wiederholung der immer gleichen Bilder vom einstürzenden World Trade Center zwischen den Menschen weltweit und New York ein spezifischer sozialer Wahrnehmungsraum hergestellt wurde. War bis zum 11. September eine kritische Distanz zu amerikanischer Kultur durchaus weit verbreitet, so rückten nun – in der individuellen Wahrnehmung vieler Menschen als auch in der vereinenden Konstruktion einer westlichen Kultur – verschiedene Orte zu einem Raum zusammen. Man ist plötzlich in Ostfriesland wie in Bayern Teil eines kulturellen Gesamtraums, der bis nach New York reicht. Ohne jeden Zweifel wird diese Einbindung in den Großraum westlicher Zivilisation vor Ort sehr unterschiedlich gelebt, aber genau das macht die moderne Kultur des Raumes aus: Eingebunden in viele Räume lokal spezifische und hierarchisch strukturierte Praktiken zu leben.
Literatur
Einstein, A.: Vorwort. In: M. Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien. Darmstadt (1960), S. XII-XVII
Freudenthal, G.: Atom und Individuum im Zeitalter Newtons. Frankfurt am Main (1982)
Jammer, M.: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien. Darmstadt (1960)
Leibniz, G. W.: Streitschriften zwischen Leibniz und Clark. In: Ders.: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie (hrsg. von E. Cassirer). Bd. 1, Hamburg (19663, orig. 1715/1716), S. 120-241
Mayerfeld Bell, Michael (1997): „The Ghosts of Place“, in: Theory and Society. Nr. 26, S. 813-836
Newton, I.: Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie (hrsg. von E. Dellian). Hamburg (1988, orig. 1687)
Richard, B. / Krüger, H. H.: Welcome to the Warehouse. Zur Ästhetik realer und medialer Räume der Repräsentation von jugendkulturellen Stilen der Gegenwart. In: Ecarius, J; Löw, M. (Hg.): Raumbildung - Bildungsräume. Über die Verräumlichung sozialer Prozesse. Opladen (1997), S. 147-166
Ries, Marc (2001): “Medien als Diskurswerfer”, in: Falter 42/01, S. 16ff
Sassen, S.: Cities in a World Economy. Thousand Oakes (1994)
Sassen, S.: Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities. Frankfurt am Main/New York: Campus (1996)
Sturm, Gabriele: Wege zum Raum. Methodologische Annäherungen an ein Basiskonzept raumbezogener Wissenschaften, Opladen 2000.
Weizsäcker von, C. F.: Aufbau der Physik. München/Wien (1986)
Weizsäcker von, C. F.: Zum Weltbild der Physik. Stuttgart (1990) |