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kurier.at, 31.01.2012
Nach der Revolution: Tunesier sind hungrig auf Theater
von Stella Reinhold
Die Wiener Theaterproduktion "dominant powers. was also tun?" war im Jänner in Tunis eingeladen. Euphorie und Straßenkämpfe inklusive.
Im Jänner wurde das in Wien sitzende theatercombinat unter der Leitung von Regisseurin Claudia Bosse mit der aktuellen Produktion "dominant powers. was also tun?" zu dem internationalen Theaterfestival Journées théâtrales de Carthage nach Tunesien eingeladen. KURIER.at-Redakteurin Stella Reinhold durfte die Truppe nach Tunis begleiten.
Eine Theaterinstallation, die die Umbrüche in Nordafrika zum Thema hat, wurde an den Ausgangsort der Revolution zurückgeholt. Spannend ist auch, dass es sich um eine der ersten internationalen Produktionen handelte, die nach der tunesischen Revolution dort gezeigt wurden und damit auch eines der ersten Stücke, das nicht erst der Zensur des Kulturministeriums unterzogen wurde. Etwas, das unter dem vor gerade mal einem Jahr gestürzten Präsidenten Ben Ali gang und gäbe war.
Völlig ausverkauft
Zwei völlig ausverkaufte Vorstellungen hat es gegeben. Die Zahl der zugelassenen Personen wurde im letzten Moment noch erhöht, weil es Schlägereien gab, um noch Karten für das Stück zu ergattern. Einige sind auch einfach über den Zaun geklettert. "So etwas sieht man hier sonst nicht", so einer der Zuseher. Eine derartige Gier nach zeitgenössischem Theater kann man sich hierzulande nur wünschen. Aber auch in Tunis herrschen die unumstößlichen Gesetze von Angebot und Nachfrage. Wo Seltenheitswert, da Begeisterung.
"dominant powers. was also tun?" ist eine komplexe Rauminstallation, in der drei Schauspielerinnen, ein Chor, diverse Medienfragmente und Texte von der Antike bis heute, von Seneca bis Bachmann, von Gilles Deleuze bis Heiner Müller, von Heinrich Heine bis Richard Wagner, aufeinandertreffen. Für Tunis wurde in nur zwei Wochen eine französisch-englische Version mitsamt einem 15-köpfigen Chor aus tunesischen Studenten erarbeitet.
Die Suche nach der eigenen Realität
Eine der Darstellerinnen ist von Kopf bis Fuß in Mullbinde gewickelt, Vergleiche mit dem zum Revolutionsheld erklärten Mohamed Bouazizi, der mit seiner Selbstverbrennung die Proteste in Tunesien auslöste, und dessen letzte Bilder aus dem Spital um die Welt gingen, sind naheliegend. Die anderen Darstellerinnen tragen traditionelle islamische Abayas (ein meist schwarzes, mantelartiges Übergewand, das der Verhüllung dient). Zum Schluss wird sich eine von ihnen dieses Gewand vom Leib reißen und in weißer Strumpfhose, schwarzer Unterwäsche und recht anzüglichen Bewegungen Montaigne rezitieren. Aus einem Lautsprecher kommen die Gerichtsprotokolle von Roman Polanski.
Der Chor, die Stimmes des Volkes, spricht über seine Erinnerungen an die Revolution, wie seine Vorstellungen, einer perfekten Gesellschaft aussähen und fordert lautstark "Gaddafi now, has to die". Dazu werden Fernsehausschnitte, Original-Sounds vom Tahrir-Platz und Musik übereinander gelagert und sorgen für eine ganz bewusste Überforderung. Die Rauminstallation zieht sich von einer ehemaligen Kirche über den Vorplatz, bis hin zu diversen Klassen- und Übungsräumen und Gängen.
Gespielt wurde am Institut Supérieur d' Art Dramatique, der Hochschule für Dramatische Kunst. Dem Zuschauer wurde hier zugetraut sich seine eigene Realität zu suchen. Die Reaktionen der Zuschauer waren durch die Bank positiv. Sie sprachen von einer für sie gänzlich neuen Form des Theaters und glauben an deren Zukunft. Auch in Tunesien. Über Politik wird hier sonst lieber unter vier Augen gesprochen.
Was von der Revolution übrig blieb
Das Hotel, in dem das theatercombinat untergebracht wurde, war mit Stacheldraht umzäunt und vorfahren durfte man auch nur mit ausdrücklicher Genehmigung; was jedoch nicht an der Theatertruppe lag. Stacheldraht war das erste, was einem bei der Fahrt vom Flughafen in die Stadt auffiel, was das friedliche Bild aus Meer und Palmen schon von Beginn an irritierte. Historische Gebäude und Denkmäler sollen so vor den zahlreichen Demonstrationen geschützt werden, erklärte ein Einheimischer. Und Demos gibt es nach wie vor viele. Mal für die Wiedereinführung des Kopftuches an der Uni, mal gegen die Männer Ben Alis, die immer noch im Innenministerium sitzen, das zur Sicherheit auch mit Stacheldraht umzäunt wurde.
Was ist in einem Land los, in dem der Verteidigungsminister vor dem eigenen Volk verteidigt werden muss? Die Revolution ist gescheitert, erklären Studenten. Jene, die vor einem Jahr auf die Straße gegangen sind und die Revolution ausgerufen haben, seien nicht dieselben, die im Oktober die islamistische Partei En-Nahda gewählt haben. "Wir brauchen eine zweite Revolution", sind sie sich einig, denn wirklich verändert hat sich bisher anscheinend wenig.
http://kurier.at/kultur/4483013-wiener-theaterproduktion-wurden-in-tunis-tueren-eingerannt.php |
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der standard, 24.11.2011
Verantwortung ist dem Theaterbesucher zumutbar
von andrea heinz
Uraufführung von "Dominant Powers"
An diesem Schauplatz würde man eigentlich eher einen Nachrichtenbeitrag erwarten. Über Terroristen vielleicht oder versteckte Bürgerkrieg-Guerillas. Alles in dieser ehemaligen Druckerei im 15. Bezirk schreit: Krise! Verfall! Die Räume sind leer, die Teppichböden verschossen oder schon herausgerissen. Ein paar Zimmerpflanzen stehen noch herum, und aus manchen Decken grünt es hervor, als würde sich die Natur wieder zurückmelden. Es ist aber "nur" Regisseurin Claudia Bosse mit dem zweiten Teil ihrer Reihe "Politische Hybride": Dominant Powers. Was also tun?.
Wie bereits in Vampires of the 21st Century be- und hinterfragt Bosse unsere Realität, speziell die politische und medial vermittelte. Bosse verknüpft Erzählungen über zeitgenössische Dramen, über nordafrikanische Revolutionen, britische Krawalle oder amerikanische Crashs mit der prototypischsten aller Schicksalstragödien: Ödipus. Freiwillige aus zwei Generationen formieren diesen Chor.
Und auch in diesem Fall ist das zuerst einmal die komplette Überforderung durch außer Rand und Band geratene Diskurse. Eine der drei Schauspielerinnen führt das Publikum von Beginn an durch das weitläufige Netz leerstehender Büroräume. Sie deklamiert ihre Texte im Stechschritt, ihre Diktion ist fast schon als brutal zu bezeichnen. Kein Makel, sondern Methode: Bosse will kein voreingenommenes Hören. Sie will ein neues, hinterfragendes Hin-Hören. Hier reicht es nicht, bereits vorgekaute Gedanken zu konsumieren. Der Lohn: neue Einsichten in Zusammenhänge, die man eigentlich zu kennen glaubte. Denn tatsächlich, was einem hier unterkommt, das kennt man schon. Hat man alles schon hunderte Male gehört und gesehen: Berichte von Krieg, Gewalt, Leid, Tod. Diskurse von Widerstand und Revolution. In einem der leeren Räume steht ein Fernseher, auf dem wieder und wieder Nachrichtensendungen über den toten Gaddhafi zu sehen sind. In einem anderen Zimmer liegen en masse verstreute Zettel herum: "How to revolt smart". Überall sind hier Buchstaben, an den Wänden, auf dem Boden, und natürlich in der Luft. Überall durchziehen unterschiedliche Tondokumente die Luft, die drei Schauspielerinnen deklamieren unermüdlich, allerorten Lautsprecher und Telefone, aus denen "es" spricht.
Bosse ist es hier noch besser als in Vampires of the 21st century gelungen, ihre Location zu bespielen. In jedem Winkel tut sich etwas, ist eine Stimme zu entdecken, die ihre Geschichte erzählt, oder zumindest eine Botschaft an der Wand. Es ist ein Assoziationsraum im wahrsten Sinne: Im Vorübergehen tun sich dem Besucher überall Gedanken und Erinnerungen auf; und auf der weitläufigen Fläche ist er nicht selten alleine mit ihnen.
Genau hier geht Bosse den entscheidenden Schritt über selbstgenügsames Diskurstheater hinaus: Sie präsentiert Ideologien und Überzeugungen zuhauf. Doch sie meißelt sie nicht in Stein, sie lässt sie durch die Luft fliegen. Am Einzelnen liegt es, wem er zuhört, wo er zuschaut. Freilich überfordert das. Doch dieses Stück fordert, weil Menschen solche Verantwortung zumutbar ist. Hier müssen wir uns unsere Fragen selber stellen. Und das sind am Ende die wirklich wichtigen.
http://derstandard.at/1319183726810/Theatercombinat-Verantwortung-ist-dem-Theaterbesucher-zumutbar |
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corpus, 23.11.2011
AUS DEM III. WELTKRIEG
DAS WIENER THEATERCOMBINAT STELLT DIE FRAGE: “DOMINANT POWERS, WAS ALSO TUN?”
von talea szenwyler
in der wiener pfeiffergasse 3 steht kein theater, sondern ein toter bürobau. dort gehe ich die stiegen hinauf in den 2. teil der politischen hybride der gruppe theatercombinat. er heisst dominant powers, was also tun? eine schwarz gekleidete junge frau führt mich und die anderen mit einem monolog – der die hand ist, die sie uns hinstreckt – auf deutsch mit französischem akzent in einen raum, dessen boden von fotokopien übersät ist. sie spricht von revolution, und ich weiss, dass es fortan um nichts anderes gehen wird, was mich beglückt, denn ich wünsche mir schon seit langem einen umsturz. ich habe schon teil 1 mit dem titel vampires of the 21st century oder was tun? gesehen, bin also sicher, das wird keine arbeit, in der ich mich in ironie werde flüchten können, denn damit geht das theatercombinat sparsam um. die monologsprechende ist eine deklamierende, sie sieht und spricht uns an, sie spricht laut und scheint sich dabei nicht anstrengen zu müssen, sie hat viel text, weg und gesten, und kann damit auch umgehen. der text spielt sie, der text ist pathetisch. ich weiss, das theatercombinat schreckt vor pathos nicht zurück, und mit dieser unerschrockenheit riskiert dieses theatercombinat auch einen konservativen duktus in der performance ihrer figuren, die sich zu der performance ihrer strukturen manchmal geradezu gegensätzlich verhält. das trifft mich hart. ich misstraue auf ihren redeflüssen daherschwimmenden körpern schon immer, den pfarrern, den politikern, den lehrern, den schauspielern, auch wenn ich die ohrwaschungen der sprache geniessen kann, sogar dann, wenn sie appellierend wäscht, die sprache, wenn sie sich in dieser aktivität scharf macht, und ihr strahl das organ hinter meinen trommelfellen schmerzt. ganz besonders misstraue ich dem chor, der aus mehreren stimmen immer eine macht, und so ist der chor ein politikum. claudia bosse zerrt es aber immer wieder an den haaren in die theatercombinatorischen räume, weil es in bestimmten historischen momenten notwendig wird, dass eine multitude mit einer stimme zu sprechen fähig ist. dominant powers, was also tun? ist eine akkumulative theaterperformance, in der das publikum von haupt- zu nebenschauplätzen und wieder zurück eher gelockt als dirigiert wird. im verlauf dieser akkumulation von texten – die nicht nur aus den mündern der spielerInnen, sondern auch aus lautsprechern und telefonen dringen oder an die wände geschrieben sind –, szenen, bildern und klängen/sounds/musik überlege ich, ob draußen der aufstand schon begonnen hat, occupy, occupy, und weiss mich doch in einer stadt, in der es dauert, bis es kracht. aber der kommende aufstand sollte ja gewaltlos sein. ich sehe ein video mit footage vom tyrannenmord an gaddafi, diesem elenden, kleptokratischen diktator, und das grasen der medien auf der blutwiese, und ich erinnere mich, dass ich, als ich diese szenen frisch im fernsehen sah, „jiha!“ rief, aber zugleich das gefühl hatte, dass dieser ruf doch einigermaßen inkorrekt war. ja, und auch das theatercombinat klebt an diesem blut, das ein „untouchable“ verkleckert hat, als er in einen zur schau gestellten kadaver umformuliert wurde, und ja, ein prozess wäre besser gewesen, denn das ausgepatzte blut ist ansteckend, es zeugt von rache, verfolgung, folter und zeugt die fortsetzung des schreckens. ich höre erzählungen vom tahrirplatz in kairo, und gedanken zur demokratie aus ägypten. ich höre passagen aus dem ödipus. ich höre auch texte, deren provenienz ich erst einmal nicht eruieren kann. ich höre das durcheinanderrufen von diskursen. ich sehe, wie in tomatensauce getauchte hände körper hinter sich herschleifen und kann mir nicht helfen: da muss ich lachen. wie befreit, als ob das theatercombinat zu einem witz gefunden hätte. weil es ja wissen muss, dass blut nicht aufführbar ist, sondern vielleicht beschreibbar oder abbildbar, aber gerade dieses aufgeführte unaufführbare führt mich wieder aus meinem gelächter ins stück, diese pizza der wirklichkeit, wie sie mir serviert wird auf dem teller der kunst. ich wende mich wieder meiner arbeit mit dem referenzbesteck zu, bin wieder dort, wo ich mich früher wohl gefühlt habe, im theaternebel und europa, dem schauplatz eines wirtschaftskriegs, und ich denke, so lange vom dritten weltkrieg phantasiert, und jetzt findet er statt. es bedarf dabei gar keiner lenk- und anderer waffen, die werden in der „dritten“ welt abgeladen und unter realbedingungen getestet, lagerabverkauf, da werden diese margen geschnitten, nein, die „erste“ welt bekriegt sich mit spekulationsautomaten und ratingagenturen. so haben uns den großen krieg nicht vorgestellt. das theatercombinat deklamiert wider den kapitalismus und möglicherweise – vielleicht habe ich das ja überhört – auch gegen den kannibalismus, der bewirkt, dass dieser kapitalismus sich nun selbst frisst. damit er wieder platz hat, räumt er sich selbst auf. das spektakel kann das, denn es ist die metamaschine, das aus allem profit schlägt. und da spielt guy debord, dessen deklamatorischer textgebrauch legendär ist, ins theatercombinat hinein. der französische akzent des eingangsmonologs stößt mich, und vielleicht ist das wenigstens eine kleine ironie, auf debord, und ich überlege, ob der krieg die avantgarde zurückbringen wird, diesen schwarzen block im demonstrationszug der kunstdiskurse, die sich gefällig ausgebreitet und gelüftet haben im verlesen der postmoderne mit dem ziel, die utopie in ein desavantgardisiertes feld umzusetzen. auf einem solchen pflanzt das theatercombinat seine setzungen, seine setzlinge nicht. auf dem boden des ersten raums, den wir betreten haben, sind fotokopien gelegen, auf denen penibel methoden, taktiken und strategeme des realen aufstands in ägypten gelistet sind: „how to revolt smart“, steht darüber zu lesen. wir gehen – und jetzt spricht aus mir wieder die, die sich schon seit langem einen umsturz wünscht – auf einen aufstand zu, wie er sich gerade selbst programmiert. ich sehe die jüngste der spielerinnen im stück, sie ist vielleicht 16 jahre alt, und ich höre ihr herz schlagen, wenn sie laut einatmet vor jedem satz, den sie mit dem chor spricht, im takt des wortsinns. wäre sie meine schwester oder tochter, ich wäre stolz auf sie, darauf, dass sie mit fragt: „was also tun?“ ich sehe die ältere frau, sie könnte meine mutter sein, in einem hochzeitsschleier, und sie fragt ebenso deutlich. ich sehe claudia bosse in ihrem stück umherwandern und frage mich, wie sie es fertigbringt, eine so komplexe arbeit so virtuos zu strukturieren. sie versetzt „den zuschauer als hörenden körper“ in eine akustische choreografie. „räume aus körpern und stimmen, aus sprache und medien“, schreibt sie mit hinweis auf unser „phonetisches denken“, auf die erfahrung von sprechenden im raum: „wie genau ist die choreografie des denkens, des sprechens und hörens in einem satz aufgebaut?“ ob „sprechen lügen“ und „die sprache eine lüge“ sei, fragt die sprache vermittels günther auer, eines der mitwirkendenden. und nun setzt die sprache mich hin und zwingt mich zu antworten. das theater imitiert die sprache als teil des kommunikationssystems, dem wahrheit und lüge gleich sind. das theater als modell der sprachkommunikation ist wie die sprache selbst immer wahr, weil sie sich ereignet. das theatercombinat baut mit der sprache, den bildern, den gesten, den repräsentationen und aktionen – nebenbei: alle aktionen sind, so leid es mir tut, prozessuale repräsentationen – ein gebirge der verantwortung auf. denn das stück ist eine aufführung ethischer fragestellungen, in der „responsibilität“ die antwort auf das entweder-oder von lüge-wahrheit ist. und jede revolte wird eine der verantwortlichkeit sein oder sie wird nur ein weiterer sinnleerer gewaltakt werden. bachmann: wüstenbuch; deleuze & guattari: anti-ödipus; gramsci: gefängnishefte; kipling: the song of the white men; müller: ödipuskommentar; marx: der achtzehnte brumaire des louis bonaparte; montaigne: of a monstrous child; plath: lady lazarus; rancière: ist kunst widerständig? + der hass der demokratie; seneca: oedipus; wagner: die revolution 1848; zizek: die blutige robe des tyrannen; bosse: gaddafi now + wenn wir was tun wollen. daraus und aus weiteren materialien ist das gebirge aufgefaltet. das modell sprache aus formuliertem hergestellt. dieses modell ist kein bild und keine architektur, sondern ein ereignis. die überträgerinnen der sprache sind puppenspielerInnen der worte und zugleich marionetten der sprache – so stellen sich die verhältnisse in dominant powers, was also tun? dar. wenn die puppenspielerInnen die verantwortung an sich reißen, befördern sie sich in jene areale der kommunikation, in die ethik eingeschrieben ist. dann haben sie viel geschafft. so. da stehen wir, sage ich zu mir. ich bin claudia bosse, nele jahnke, nora steinig, catherine travelletti, günther auer, peter-christian dworzak, jessyca r. hauser, bozena kunstek, réka kutas, sandra pascal, susanna peterka, stella reinhold, eva maria schmid, thomas schweitzer, konstantin sieghart, ilse urbanek, eva-maria wall, lisa weber, jana westermann, dana worfolomeeva, daniela zeilnger, marco tölzer, anna feldbein, ana mirkovic chork, luzie stransky, nicole delle karth, chris standfest, serena laker, alexander könig und anne lange. wir alle und die besucherInnen steigen aus diesem erlebnis nicht ohne jenen gewinn, der sich aus der arbeit an der verantwortung schlagen und sprengen lässt. der reduktion steht die akkumulation gegenüber. innerhalb einer akkumulation ereignet sich die reduktion über die wahrnehmung, die selektion und einprägungsmuster. in dominant powers, was also tun? ist der umgang damit die arbeit der besucherInnen. mit dem widerwärtigen, reaktionären und passivistischen begriff „geschmack“ ist da kein auskommen. im „gefallen“ geschieht nur der fall der verantwortung ins bodenlose. auch dagegen steht dieses stück.
http://corpusweb.net/aus-dem-iii-weltkrieg.html |
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wiener zeitung, 25.11.2011
Die arabische Revolution, zerquescht
von helene kurz
Die jüngsten politischen Umbrüche im arabischen Raum, Bilder von Revolution und Gewalt dienen Claudia Bosse (theatercombinat) für die Fortsetzung ihres Projekts "politische Hybride", das sie zusammen mit dem Soundkünstler Günther Auer entwickelt hat.
"dominant powers. was also tun?" ist eine Installation aus Fakten, Medienberichterstattungen und Textfragmenten. Die Performance ist auf mehrere Räume einer ehemaligen Druckerei aufgeteilt, die parallel bespielt und aus Boxen beschallt werden. Das heruntergekommene Bauwerk spiegelt die Destruktivität von Macht und Gewalt wider. Gezielt platzierte Blätterranken aus den Deckenverkleidungen lassen jedoch auf Widerstand und Erneuerung schließen.
Selbstbestimmung
Es herrscht ein Aufeinandertreffen von verschiedenen Elementen, Rhythmen und Situationen, die sich dann wieder auflösen. Der Besucher bestimmt, was er sieht, hört oder (er)fühlt, und kreiert seine Wirklichkeit selbst. Dabei spielt die Akustik eine zentrale Rolle. Texte werden - durch Mikrofone verstärkt - ins Publikum geschleudert oder ganz leise durch Telefonhörer zum Lauschen angeboten. Die gleichzeitigen Darbietungen haben ihren Reiz, aber die ununterbrochene Beschallung mit teils wirren Textfragmenten wirkt wie ein Schlaghammer, der das Publikum auseinandertreibt und den Kern der Installation, die Demokratiebewegung im arabischen Raum, zerquetscht.
Ein dichtes Theatererlebnis, das (heraus)fordert. Bequem ist anders.
http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/wzkunstgriff/buehne/413899_Die-arabische-Revolution-zerquetscht.html |
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orf, 27.11.2011
tv-beitrag von franziska mayr-keber
Claudia Bosse: Theatercombinat "dominant powers. was also tun?" (02:33)
Das neue Stück von Claudia Bosse – "dominant powers. was also tun?" – bezieht sich auf die aktuellen Umbrüche in Nordafrika.
Gespielt wird in einem leerstehenden, alten Bürogebäude in Wien, einem seltsamen verlassenen Ort, der die nachrevolutionäre Stimmung des Stücks unterstreicht. Außergewöhnliche Orte und experimentelle Herangehensweisen, dafür ist Claudia Bosse in der OFF-Theater Szene schon lange bekannt. 2009 wurde sie mit dem Nestroy-Preis ausgezeichnet.
http://tv.orf.at/groups/kultur/pool/boss |
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denkfabrikat.at, 23.11.2011
blogbeitrag von sebastian müller
Revolution - was also tun?
In einem ehemals von der Technischen Universität Wien benutzten, aufgelassenen Gebäude im Süden des 15. Wiener Gemeindebezirks legen Claudia Bosse und das theatercombinat derzeit letzte Hand an ihr neues Stück dominant powers. was also tun? an. Die letztes Wochenende Statt gefundene Generalprobe offenbarte eine visuell wie körperlich atem(be)raubende labyrinthisch-performative Installation aus szenischen und literarisch-philosophischen Versatzstücken, die sich im Angesicht der ägyptischen Revolution die Frage nach der Produktion von Geschichte stellt. Quasi ein Streifzug durch eine Partitur des Auf-Brechens.
Das Aufbrechen der Räume
Und dies ist mehr als ein bloß einfach wörtlich genommenes Motto: der Akt des Aufbruchs am Beginn der Aufführung, das Verlassen des Treffpunktes für das Publikum, wenn man einer der drei späteren Protagonistinnen in die eigentlichen Räumlichkeiten des Stücks, die hauptsächlichen Spielstätten, folgt, wird bereits früh aufgebrochen, destruiert, zersplittert in kleine Ecken und unergründliche Hallen, in denen man verschiedene szenische Elemente je nach eigener Entscheidung mit Blicken und Handlungen erforschen kann. Nacheinander treten die drei zentralen Darstellerinnen mit Rezitationen verschiedener Textfragmente auf. Die wesentlichen tragenden Elemente, Ausschnitte aus Senecas Oedipus sowie Heiner Müllers Ödipuskommentar, werden dabei durch Interviews zum arabischen Frühling, im Besonderen der Revolution in Ägypten, konterkariert und untergraben, der Akt jugendlichen Aufbegehrens dabei als Generationenkonflikt, der neben der Erneuerung der Freiheit auch den alten Fluch von Tod und Unterdrückung weiter in sich trägt, enthüllt und freigelegt.
Diese von Claudia Bosse und dem Sound-Künstler Günther Auer selbst in Kairo und anderen Städten aufgenommenen Interviews werden mittels MP3-Player in den Hörern ausrangierter Bürotelefone wiedergegeben. Aus diesen entsteht so ein nur noch in voyeuristischem Habitus wahrnehmbarer technisch-virtueller Chor an Stimmen aus einem gespielten Äther (legt man einen Hörer an sein Ohr, führt man kein Telefonat, sondern wird Teil eines gekappten Dialoges, heimlicher Mithörer und Voyeur). Es ist genau dieses klanglich-installative Moment, das die antike Tragödie, die durch einen meist an der Grenze zwischen Schwärmerei, nervösem Wahn und bruchartiger Explosion agierenden Sprechchor angedeutet wird, in eine industriell verkrüppelte und brüchige Moderne einschreibt, die in jenen phantomistisch anmutenden Telefonen, endlosen Verkabelungen und veralteten Lautsprechern, durch die manchmal ein stetes metronomisches Schlaggeräusch zu hören ist, begraben liegt. Der Raum humpelt vor Gebräuchlichkeit.
An unzähligen Stellen sind die Apparate zu finden, mit jeder Entscheidung, einen dieser Hörer und das darin zu Hörende regelrecht aufzugreifen, durchbricht man das konventionelle theatrale Gefüge, inszeniert man sich selbst als szenischen Konterpart und steigt zugleich aus der Menge derer, die sich oft ihrer Suche nach dramaturgischer Linearität folgend den Monologen der drei Hauptdarstellerinnen anheften. Somit wird auf technischer Ebene jener Prozess vollzogen, der auch auf performativer Ebene an der das Spiel eben jener Hauptdarstellerinnen um- und mitspielende, aber auch durchbrechende und -kreuzende Bewegung des Sprechchores stattfindet: das Durchwühlen der Räume, das Auf- und Durchbrechen ihrer Strukturen, das Freilegen der in ihnen verborgenen Geschichten.
Keine neuen Utopien
Aus den vielen Textfragmenten und bespielten Räumen und Fluren, die durch das Stiegenhaus in zwei große Bereiche geteilt sind, entsteht so ein Labyrinth an Strukturen und strukturellen Dissonanzen. Raum, Akt, Sprache und Text treten in Dialog und Streit zueinander, reiben sich auf und verknoten und verspielen sich. Anhand von Passagen politischer Theorien, wie sie etwa von Antonio Gramsci oder Slavoj Zizek entwickelt wurden, werden in diesen Bruchlinien des Stückes die revolutionären Um- und Aufbrüche der Geschichte, generell die Produktion von Geschichte durch den radikal erzwungenen Stillstand und Fall überkommener Herrschaftsmodelle und Regime, durch radikale Schnitte in der Zeit, (allerdings nicht neu) verhandelt.
Nicht nur durch Claudia Bosses offensichtlich dekonstruktiven Zugang zu Theatralität und Geschichte geht es an diesem Abend nicht um das Entwickeln neuer Utopien, sondern um die Inter-Kontextualisierung der Gegenwart und gegenwärtiger Realitäten. Wie sehr die Asche aus Chaos, Repression, Gewalt und Tod in einem revolutionären Prozess keinen Phönix empor steigen lassen muss, sondern nie versiegende Asche bleiben kann, wird dem Publikum etwa in beeindruckender Weise vorgehalten, wenn es zum ersten Mal den in dichten Trockennebel gehüllten ehemaligen Druck- und Zeichensaal der Technischen Universität Wien betritt. Wie geisterhafte Silhouetten staksen Darstellerinnen wie Chormitglieder in der weißen Wand umher, erst durch neugieriges Herantasten ergeben sich langsam die tatsächlichen Ausmaße dieses riesigen Raumes. Es erinnert an in Panzergranaten geschlagene Revolten und in Tränengas erstickte Proteste. Als sich am Ende des Stücks der Nebel endlich gelichtet hat, offenbart sich keine neue Zukunft - sondern das Fortwirken der Gewalt in Vergewaltigung und körperlicher Ausbeutung.
Der schmale Grat zwischen Befreiung und neokolonialistischer (Selbst-)Unterwerfung wird auch an den bürgerkriegsähnlichen Umbrüchen in Libyen deutlich gemacht. Die chaotisch-unwürdigen Umstände, unter denen der Diktator Muammar al-Gaddafi in den Händen seiner Feinde zu Tode kam, dokumentiert in einem Handy-Video, das in den gängigen Nachrichten-Kanälen meist in gerade noch erträglichen Ausmaßen zu sehen war, wird in einem eigenen Raum zur Gänze als permanenter Loop gezeigt. Ein Schlag in die Magengrube, aus dessen perverser Anziehungskraft man sich anfänglich dennoch nicht befreien kann. Dass die Rebellen auch darüber hinaus mehr vergossenes Blut als nötig für ihre Befreiung in Kauf nahmen, dass die westliche Öl- und Waffenindustrie längst ein neues Korsett wirtschaftlicher und kriegerischer Fremdbestimmung über das Rohstoffgebiet Libyen gestülpt hat - das alles schreit der Chor eingepfercht in einer kleinen Abstellkammer in den großen Raum, gleich einem kollektivierten Kriegsgefangenen.
Der Mut zur Versäumnis
Jedoch, um möglichst die meisten all dieser Dimensionen und Facetten von dominant powers. was also tun? zu entdecken, braucht es in hohem Maße den Mut des Publikums zur Versäumnis. Dieses wird allerdings durch die frühe Verlagerung der Performance in den großen Saal zumeist dort gebündelt, weswegen etwa in den Räumlichkeiten auf der anderen Seite des Stiegenhauses eine ungefähr im Mittelteil von einigen Chormitgliedern wunderbar intim in Szene gesetzte Konfrontation der Generationen der Aufmerksamkeit der Zuschauer zu entgleiten droht. Der Blick in die eigenen Augen, dem man den Darstellerinnen gegenüber oftmals ausgesetzt ist, kann als zwar wortlose, aber umso konkretere Handlungsaufforderung gelesen werden. Das Filtern von kleinen Essenzen, die in diesem theatralen Labyrinth ruhen, obliegt dementsprechend in gewissem Ausmaß der eigenen Intuition und Initiative. Etwa wenn man sich eines der zahlreichen Telefone schnappt, den Hörer abhebt und schließlich vor einem eher nebenbei bemerkten Vogelkäfig zu Stehen kommt, in dem zwei Wellensittiche ihre notorischen Kreise ziehen, einer von beiden aber plötzlich still sitzen bleibt und einem ins Gesicht blickt - während man den leisen Erzählungen einer Aktivistin der ägyptischen Revolution lauscht. Ein so aussagekräftiger Moment, ein Bild von solch tragischer Ruhe, solch zufälliger Grazie und gleichzeitig unumgänglicher Vergänglichkeit, dass man weinen möchte.
Es sind diese und andere Elemente (etwa der Versuch, gleichzeitig einem Seneca-Monolog und einem "Telefon-Interview" beizuwohnen, was zuweilen unerwartet interessante Wortgruppen wie love affair - Vaterland oder believe in yourself - gottlose Hand zu Tage fördert), die sich aus dem eigenen spielerischen Zugang zum Vorgefundenen ergeben. Und dieses Spielerische ist durchaus nötig, um sich auch Verschnaufpausen des Eigenen in dieser thematisch fordernden und mitunter anstrengenden Performance verschaffen zu können. Denn trotz aller in ihm liegenden Möglichkeiten - ein Spiel ist das Ganze nicht. Es ist todernst, stellenweise hysterisierend und - wie der Nebel, der in ihm auftaucht - knochentrocken. Situativer Sarkasmus, wie er diesem kafkaesk anmutenden Ort, der teilweise direkt dem Process entnommen sein könnte, sicherlich bestens anstehen würde, kommt selten auf; gelacht, gelächelt, gegrinst wird kaum. Kommen die Mitglieder des Chores zum Stehen, dann starr wie Stein.
Der kleine Augenblick Freiheit
Und mittendrin gibt es doch ein kleines Moment, das alldem heftigst widerspricht: die Audio-Aufzeichnungen von den Protestgesängen auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Wer Stefano Savonas Bilder über diesen Ort gesehen hat, weiß, durch welch mimische Intensität, welchen Gestaltungswillen und welch demonstrativen Enthusiasmus sich diese Chöre auszeichneten. Dieser kleine und kurze Augenblick Freiheit, der Protesthandeln ursprünglich begründet und charakterisiert und Ausdruck einer zumindest minimalen Hoffnung ist; dieser performative Aufbruch - an ihn mag Claudia Bosses Stück nicht (mehr) glauben. Vielleicht stellen dessen Fragen an die Geschichte und ihre zahlreich untergegangenen Revolutionen einen in seiner Kritik zu distanzierten Blick dar, der in seiner Reflexion die entscheidendste Position - die melodisch-poietische - gerade nicht einnimmt. Vielleicht - und das könnte letzten Endes die eigene lautstarke Forderung der Performance sein - obliegt das Schaffen und Gestalten dieses Augenblicks aber auch dem offensiv inter-, nicht bloß ausweichend reagierenden Handeln des Zuschauers. Eine Auf-Forderung, deren Zugkraft definitiv über den Abend hinausreicht. |
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skug, 15.11.2011
claudia bosse im interview mit michael-franz woels
Ein Organismus von Anwesenheiten. Wie visionär kann/muss Performance bzw. Theater sein? Ein Gespräch mit Claudia Bosse über ihr neues Stück fürs Theatercombinat, das am 23. 11. im DOMPOWpalace uraufgeführt wird.
Claudia Bosse: Die Übergänge sind sehr fließend. Die aktuelle Arbeit »dominant powers. was also tun?« ist ein Versuch, mit installativen, performativen und theatralen Momenten in Übergängen zu arbeiten. Dann ist die Frage: Was ist das Installative, das Performative, das Theatrale? Das Installative sind Elemente in Räumen, die ohne ein bestimmtes Zeit-Frame erscheinen. Die zeitliche Wahrnehmung der Gleichzeitigkeit von Angeboten wird dem Zuschauer überlassen.
Man ist im Theater ja immer versucht, irgend eine Art von geführter Chronologie herzustellen. Der Übergang zwischen Performance und Theater – diese performative Grundpräsenz des »Da-Seins«, die mich interessiert – sind artifizielle theatrale Handlungen in Verbindung mit einem konkreten Tun. Mich interessieren gesprochene Texte mit bestimmten Inhalten, Fügungen und Rhythmen, die im Moment des Sprechens in seinem Sinn aktualisiert werden. Und bei in der Arbeit mit diesen fremden Texten eine Grundhaltung: Nicht zu sagen, was man denkt, sondern zu denken, was man sagt. Das Theater ermöglicht komplexere Organisationen, das Aufeinandertreffen und die Koordination verschiedener Elemente, der Arbeitsprozess ist eine andere Art und Weise des Probens und Wiederholens, die der Erfahrung des »reinen Tuns« manchmal widersprüchlich ist.
Du hast den Begriff der Grundpräsenz erwähnt, was umfasst für Dich der vielleicht geläufigere Begriff der Bühnenpräsenz?
Ein räumliches Bewusstsein, ein geistiges und ein muskuläres Bewusstsein wo man ist und was man tut. Es hat total viel mit Kontrolle zu tun, mit Klarheit und Vehemenz im Handeln. Dass einem die Verhältnisse dieser Entscheidungen die man trifft, mit sich und zu anderen, bewusst sind.
Man erfährt sich zugleich wiederum in dem Handeln, darf sich aber nicht im Tun verlieren. Ich kann Handlungen setzen, werde aber nicht zu hundert Prozent zu dem was ich tue. Eine komplette Anwesenheit im Bewusstsein der Elemente, die einen in diesem Moment bestimmen und dann in diesem Ensemble von Bedingungen Entscheidungen zu treffen, aber nicht imaginär, sondern von den konkreten vorhandenen Voraussetzungen ausgehend.
Wenn du Deine letzten beiden Stücke vergleichst, die du ja als politische Hybride bezeichnest, wo siehst Du Veränderungen, Weiterentwicklungen, Aufbauendes ...
Das letzte Stück »vampires of the 21st century oder was also tun?« war der Versuch, von einer zentralen Perspektive Überlagerungs- und Verdichtungsräume in der Imagination der Zuschauer zu schaffen und dort in einer relativ geschützten Zuschauer-Physis das Bewusstsein und die Erinnerung mit Gedanken in Gefahr zu setzen; dabei aber als Zuschauer die Ruhe eines klaren Blickes zu haben. »dominant powers. was also tun?« ist nun der Versuch – der sich als nicht ganz unkompliziert herausstellt – den Sound gepaart mit anderen Elementen über ein System mehrerer Räume aufzuteilen. Räume zu schaffen mit verschiedenen Stimmen, den Tondokumenten, einem anwesenden Gefüge des Chores, dazu noch drei Darstellerinnen. Übergänge schaffen zwischen installativen Anwesenheiten, einer installativen Organisation von Räumen und zum Teil auftauchenden, theatralen Situationen, die dann auch wieder zerfallen. Der Betracher, der Besucher muss sich deutlich eigens organisieren. Es passieren häufig mindestens zwei Sachen parallel in verschiedenen Räumen. Man muss sich da hindurchbewegen und wird immer etwas verpassen. Man muss somit Aufmerksamkeitsentscheidungen und Anwesenheitsentscheidungen treffen. Es forderte eine Form von Orientierungsleistung und Koordinationsleistung. Das Stück erzeugt auch intime räumliche Situationen, Intensitäten und Direktheiten, die innerhalb eines theatralen, installativen Gefüges ablaufen.
Du arbeitest ja bei dem aktuellen Stück »dominant powers. was also tun?« mit einem Freiwilligen-Chor …
Ich habe ja schon viele Chorarbeiten gemacht. Zum Beispiel der Sprech-Chor bei der Massensteppchoreografie »turn terror into sport« 2007 am Maria-Theresien-Platz. Da waren 100 Menschen, die mit ihren Stepptanz-Bewegungen den Ort verunsichert haben. Bei diesem Chor von »Dominant Powers« steht das synchronisierte Sprechen nicht im Vordergrund, es ist ein Organismus von Anwesenheiten. Ein Chor ist immer eine gefährliche und interessante Mischung aus Biografien, individuellen Haltungen und verschiedenen Körpern. Es entstehen permanent Veränderungen, auch weil sich die Zusammenstellung der Teilnehmenden ändert, da es sich hier um eine freiwillige Teilnahme handelt. Es gibt vorgegebene Texte, wie z. B. den »Ödipuskommentar« von Heiner Müller und es gibt aber auch Texte, wo die Teilnehmenden von mir gebeten wurden selber Aussagen zu bestimmten Fragen zu treffen. Bei Chorstücken der Theatergeschichte ist ja schon mal eine Legitimation der Inhaltlichkeit gegeben. Wie ist das aber dann, mit der Autorenschaft z. B. wenn Positionen, Ansichten der Einzelnen veröffentlicht werden. Da entstehen Selbstbestimmungsfragen und ich bin gespannt, wie wir das schlussendlich auflösen.
Kannst du mit dem Begriff Entrhythmisierung etwas anfangen?
Ganz praktisch auf den Chor bezogen, versucht man ja immer über den Rhythmus zu arbeiten. Der Rhythmus ist oft ein Arbeitsmittel bei Proben, über das man sich in Verbindung zu »etwas« setzen kann. Dieses »etwas« ergibt dann mehr als die Summe der einzelnen. Jede Information, die wir aufnehmen ist zeitlich getaktet, also rhythmisch. Jegliche Gehirninformation wird über zeitliche Takte umgewandelt. Da die Taktungen zum Teil individuell sehr unterschiedlich sind und die Übersetzungen unterschiedlich aufgelöst werden, habe ich den Eindruck, dass die Möglichkeit, sich selbst im Verhältnis zu anderen anders zu erleben über den Versuch einer gemeinsamen Rhythmisierung erfolgen kann. Der Rhythmus hat viel damit zu tun, wie man sich und die Welt wahrnimmt. Über die bewusste Verschiebung von Taktungen oder Rhythmisierungen kann man sich in andere Erfahrungs- oder Handlungsbereiche bringen. Diese Taktungen sind immer mehr visuelle Taktungen, in denen wir Informationen dieser Bilddominanz selektieren. Auf der akustischen Ebene, auf der Sprachebene werden Informationen immer de-rhythmisierter. Wenn man sich jetzt zum Beispiel Radiosendungen vor 50 Jahren anhört, dann ist der sprachliche Duktus viel rhythmischer. Ein Bild ist ja immer relativ und wird häufig erst durch eine sprachliche Information kontextualisiert. Akustische Informationen verlangen imaginative Übersetzungen durch den Hörer und die Stimme ist ja eine unglaublich körperliche Information. Die Stimme als Raum, die Stimme kann im Körper über Luft die Muskeln und Knochen in Vibration versetzen. Sie bewegt sich aus dem Körper der sie erzeugt und in den Umraum, d. h. die Gesellschaft.
Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit dem Musiker Günther Auer vorstellen? Ihr habt ja auch gemeinsam in Ägypten recherchiert und Interviews geführt ...
Es läuft vieles parallel, entwickelt sich synchron – eine sehr intensive, zum Teil auseinanderlaufende und dann wieder zusammenlaufende Kommunikation. Ich erzähle ihm meine Gedanken und dann hat er Assoziationen zum Material dazu. Das hören wir uns an, ich sage, das interessiert mich, das interessiert mich nicht. Er findet die jetzige Arbeit um ein vielfaches komplexer als das letzte Stück »vampires of the 21st century oder was also tun?«. Er ist bei den Proben anwesend, sammelt Sounds die wir uns dann durchhören. Daraus entsteht eine Auswahl an räumlicher Verteilung dieser Sounds.
Wir haben gemeinsam in Ägypten Interviews geführt und auch Sounds gesammelt. Daraus ergeben sich gemeinsame Wahrnehmungserinnerungen.
Wie wichtig war dir die persönliche Recherche vor Ort in Ägypten?
Mir war es sehr wichtig. Ab dem Moment, wo die Umbrüche passiert sind, sich Geschichte als Geschichte manifestierte und die Ereignisse medial vermittelt wurden, wollte ich wissen, was die Leute dort denken, wie sie sich erinnern, was eigentlich stattgefunden hat. Das hat Eingang ins Stück gefunden, mich aber auch ganz generell interessiert. Die Reise war also nicht rein funktional für das Stück. Ich habe wahnsinnig viel gelernt über Dinge, wo man sich selber in Gewohnheiten verliert – wieder ein Möglichkeitsdenken mit allen realistischen Einschätzungen erlangt. Welche Funktion kann Theater haben? Kann das ein Analysewerkzeug sein? Wenn du mit Leuten sprichst merkst du Überschneidungen und Differenzen. Du merkst unterschiedliche Zweifel. Das Wertvolle waren für mich auch die Haltungen oder der kritische Zusammenhang zwischen Revolution und Nationalismus. Es geht dabei aber nicht um ein investigatives Theater, sondern um den Versuch mit diesen Bewusstseins- und Haltungsinstrumenten andere Zusammenhänge herzustellen, damit man nicht nur degradiert ist zum Konsumenten von scheinbar fixierten Verhältnissen, Gedankenwelten und Wirklichkeitszusammenhängen. Man ist produzierender Teil der Wirklichkeit, man ist verantwortlich für seine Wirklichkeit. Das ist die Einsatzfläche von Theater.
http://www.skug.at/article5908.htm |
kurier.at
der standard
corpus
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orf a.viso
denkfabrikat.at
skug
ö1 kulturjournal
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ö1 kulturjournal, 22.11.2011
radiobeitrag
von christine scheucher
Politisches Theater
Neues vom theatercombinat
Theater als akustische Choreographie oder räumliche Soundinstallation - wo "theatercombinat" draufsteht, ist mit Sicherheit kein konventionelles Theater drin. Spätestens seit ihrer letzten Produktion "vampires oft he 21st century oder was also tun?" arbeitet Claudia Bosse, Mastermind des internationalen Ensembles theatercombinat, an einer eigenen, um nicht zu sagen eigenwilligen Theatersprache.
Im Zentrum ihrer Inszenierungen stehen die Akustik und die Erkundung des Theaterraums. In Wiens Off-Szene ist Claudia Bosse und ihre Kompanie spätestens seit 2009 eine fixe Größe. Damals erhielt sie für ihre Inszenierung von Elfriede Jelineks "bambiland" den Nestroy für die beste Off-Produktion.
Diesen Herbst wurde Claudia Bosse neben so namhaften Künstlern wie Günter Brus und Elke Krystufek vom Leopold Museum eingeladen, mit dem Jahrhundert-Provokateur Egon Schiele in einen künstlerischen Dialog zu treten. Die Soundinstallation, die der deutschen Regisseurin dazu eingefallen ist, ist in der aktuellen Jubiläumsausstellung "Melancholie & Provokation" im Leopold Museum zu sehen.
Nach diesem kurzen Ausflug in die Welt der bildenden Kunst, meldet sich jetzt wieder die Theatermacherin Claudia Bosse zurück. "dominant powers. Was also tun?" heißt die neueste theatercombinat-Produktion. Sie beschäftigt sich mit den jüngsten politischen Entwicklungen im arabischen Raum.
Eigene Klangwelt
In den großzügigen Büroräumen und Werkstätten einer ehemaligen Druckerei ertönen Stimmen. Die Zuseher heften sich an die Fersen einzelner Akteuren. Manche erkunden das unübersichtliche Raumgewirr auch auf eigene Faust. Das Publikum darf sich in der Zimmerflucht frei bewegen. Denn überall gibt es etwas zu entdecken und überall ist vor allem etwas zu hören. Aus Lautsprechern, die in den Räumen verteilt sind, tönen die Stimmen der Akteure. Die Einheit von Körper und Stimme ist aufgehoben, die Sprache hat sich verselbstständigt. Man spricht nicht, sondern wird gewissermaßen gesprochen. Von den Informationshäppchen, die die Medien in die Welt setzen zum Beispiel.
Wie bereits in ihrer letzten theatercombinat-Produktion kreiert Claudia Bosse in "dominant powers. was also tun?" eine Klangwelt, bestehend aus Textfragmenten, Soundfetzen und Zeitzeugenberichten. Wer da gerade spricht, was da gerade rezitiert wird, weiß man nicht immer genau. Dennoch gibt es einen Kern, um den dieses scheinbar außer Kontrolle geratene Stimmengewirr kreist: Die Demokratiebewegung im arabischen Raum nämlich. Claudia Bosses künstlerischer Auseinandersetzung mit dem arabischen Frühling sind intensive Recherchen vorausgegangen.
Zunächst wurde sie über die Medien auf das Thema aufmerksam. Im September 2011 reist Claudia Bosse nach Kairo, um Interviews mit politischen Aktivisten zu führen - Gespräche, die sie später in ihre aktuelle Produktion einarbeiten wird.
Kommentar vom Chor
In "dominant powers. was also tun" fragt Claudia Bosse danach, was der übersättigte, politikverdrossene Westen von den politischen Umbrüchen in Nordafrika lernen kann. Man hört die bewegenden Berichte ägyptischer Aktivisten, die von den Demonstrationen am Tahrir-Platz erzählen. Und sieht dann das erschütternde Handy-Video, das den blutüberströmten Exdiktator Muammar al Gaddafi in den Fängen der Revolutionäre zeigt.
Ähnlich wie in der antiken Tragödie liefert ein Chor in "dominant powers. Was also tun?" den Kommentar zum Geschehen, tut kund, was ansonsten vielleicht eher hinter vorgehaltener Hand gesagt wird. Kann man die Solidarisierung des Westens, der jahrzehntelang mit den arabischen Diktatoren kooperiert hat, für bare Münze nehmen? Hat die realpolitische Praxis nicht vielmehr vorgeführt, dass die Rede von Menschenrechten und Demokratie allzu schnell als Slogan missbraucht werden kann, um geopolitische Interessen durchzusetzen und neue Märkte zu öffnen?
Mit "dominant powers. was also tun" hat Claudia Bosse ein dichtes Theatererlebnis geschaffen, das den Zuschauer fordert. Ein Kommentar zu den aktuellen Ereignissen im arabischen Raum, zwischen Hoffnung und - wie die jüngsten Ereignisse in Ägypten gezeigt haben - Resignation.
Die Uraufführung der aktuellen theatercombinat-Produktion "dominant powers. Was also tun?" findet am 23. November 2011 statt und zwar in der Pfeiffergasse im 15. Wiener Gemeindebezirk. Vorstellungsbeginn ist 20:00 Uhr.
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