theatercombinat | 24.11.2010 - 27.11.2010 - FFT düsseldorf, 8.12.2010 - 16.12.2010 - wien, 12.02.2010 - watermill center new york vampires of the 21st century oder was also tun? experimental dokumentarische performance von claudia bosse / theatercombinat

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kurier, 26.11.2010

"DIE ZEIT IST AUS DEN FUGEN - DIE POLITIK GEHT WEITER"
Von Caro Wiesauer

Theater-Uraufführung – Die alte Welt liegt im Sterben, die Neue ist noch nicht geboren: es ist die Zeit der Monster“, konstatierte der marxistische Philosoph Antonio Gramsci. Diese Spur nimmt Claudia Bosse mit dem theatercombinat auf und spinnt sie, beinahe ein Jahrhundert später, weiter. „vampires of the 21s century – oder was also tun?“ heißt ihre Produktion, in der Texte – von Ovid über Baudrillard bis Ulrike Meinhof – auf heutige Tauglichkeit geprüft werden. In Kooperation mit dem Forum Freies Theater Düsseldorf (FFT) begann die 2009 für ihr „Bambiland“-Projekt mit dem Nestroypreis ausgezeichnete Regisseurin im Mai dieses Projekt zu erproben.

Vampire

Am Mittwoch fand die erste Aufführung im FFT statt, ab 8.12. machen die Vampire der Neuzeit in Wien, in einer adaptierten Halle im 8. Bezirk (Kartografisches Institut) Station. In Düsseldorf ist Claudia Bosse keine Unbekannte; 2002 sorgte sie z. B. Mit ihrem fünftägigen „Schlaf gegen Düsseldorf“-Projekt am Rhein für Aufsehen. Zu Beginn von „Vampires of the 21st century“ berichtet eine Stimme hinter Yoshie Marouka von Kokainentzug und vom Leben im Dunkeln, um daraus eine fließende Choreografie über das Scheitern des Sozialismus zu entwickeln. Aus einer Box tönt Ulrike Meinhof: als alleinerziehende, politische Frau beklagt sie, keine Ehefrau zu haben, die alles für einen erledigt (kurz darauf verließ sie ihre Kinder). Dann setzen Marouka, Caroline Decker und Nora Steinig zu einem ausdrucksstarken, bewegten Kanon an, wütend, verzeweifelt kämpfen sie dagegen an, dass man Leben nicht lernen kann. Frédéric Leidgens mischt sich unter die Frauen, wird von ihnen, quasi am lebenden Objekt, als alter Mann beschrieben. Decker erzählt, in gequälter Umarmung mit Steinig, die berührende und grausame Geschichte einer Prostituierten; und dann bringt Marouka Vampire mit Kruzifix und Knoblauch ins Spiel. Der Teppich ist fertig, die Sounds wummern und wimmern und donnern, die Akteure bleiben klar bei ihren Linien und Körpern, verschwimmen trotzdem zu einem Kunstkörper. Terrorismus, Goldenes Zeitalter, Werte-Deklination, Verantwortlichkeiten; die Zeit ist aus den Fugen, da kann man Bedeutungen setzen und verschieben, was man will. Eine spannende, konzentrierte Arbeit, die Akteure und Publikum ordentlich fordert. Ein Versuch, auszudrücken, was erst genau definiert werden muss und doch jeder spürt: Man kann nur mehr simulieren – leer durchdrehen, am Stand.


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augustin, 01.12.2010

"NACH DER ORGIE? WIRD THEATER GESPIELT!"
Von Christine Ehardt, Reinhold Schachner

Claudia Bosse vom theatercombinat bietet keine Unterhaltungsware an.

Was haben der Schlachthof St. Marx, die Rennbahnwegsiedlung, der Schwarzenbergplatz und die Ankerbrotfabrik gemeinsam? Sie alle waren Schauplätze der Theaterperformances von Claudia Bosse. Ihr neues Stück «vampires of the 21st century oder was also tun?» hat am 8. Dezember Wien-Premiere. Der Augustin sprach mit ihr über die neue Produktion, körperliche und geistige Überforderungszustände und über die Frage: Warum zum Teufel noch Theater?

Augustin: Die neue Produktion wird im ehemaligen Kartographischen Institut stattfinden, warum haben Sie diesen Ort gewählt?

Claudia Bosse: Das Kartographische Institut wurde um 1900 gegründet und diente zur Erfassung und Aufzeichnung territorialer Grenzen. Hier wurden Landkarten gezeichnet und diese Karten archiviert. Mich hat interessiert, ob es möglich ist, mit Mitteln des Theaters eine Gegenwartssondierung, eine Gegenwartskarte zu machen. Die Kartenleser sind dabei die ZuschauerInnen, die das Geschehen auf der Bühne für sich zusammensetzen.

A: Letztes Jahr hat das theatercombinat vor allem in der Ankerbrotfabrik gespielt, dort wurde «2481 desaster zone», ein Querschnitt aus den bisherigen Tragödienproduktionen mit Texten von Aischylos bis Jelinek, aufgeführt und für das Festival Neuer Musik «Wien Modern» nochmals «Bambiland» inszeniert. Davor sind Sie eher dafür bekannt gewesen, den Stadtraum für Produktionen zu nützen. Hat das Interesse am öffentlichen Raum nun abgenommen?

C.B.: Ganz wichtig ist, dass die Projekte immer verschieden sind. Nächstes Jahr gibt es ein Projekt in Prag und ein kleines Projekt in Zürich, wo der öffentliche Raum genützt wird. Es ist eben nicht so, dass es eine Machart gibt, die durchgeht, sondern es ist eigentlich immer der Versuch, aufgrund von bestimmten Fragestellungen sich auch räumlich anders zu verhalten und variabel zu bleiben. Im Moment beobachte ich eine Hysterie der Eventisierung des sozialen oder des authentischen Stadtraums, wo im Grunde bereits jedes deutsche Stadttheater darauf anspringt. Es gibt eine Tendenz, die mir nicht behagt. Daher brauche ich eine kritische Pause, um wieder zu sondieren, wo genau man wieder wie einsetzen kann.

A: Spielen dabei auch eigene Erfahrungen mit? Die Bambiland-Inszenierung von 2008 in der Rennbahnwegsiedlung hat für einiges Aufsehen gesorgt.

C.B.:Meine Kritik zielt auf einen Trend, mit sehr ähnlichen Strategien sozial zu intervenieren. Die Rennbahnwegsiedlung war ganz klar ein Konfrontationsraum. Es ging darum, sowohl uns als auch diesen Ort, der für mich eine Sozialutopie, ein Disneyland des Sozialbaus verkörpert, mit Texten von Elfriede Jelinek zu konfrontieren.

A:Noch eine Frage zur Ankerbrotfabrik. Dort wird Kunst reingeholt, um das Areal für einen späteren Businesspark zu bewerben. Fühlt man sich dabei nicht instrumentalisiert?

C.B.: Man wird immer instrumentalisiert, das ist ein Grundkonflikt, den man nicht aufheben kann, wenn man Interesse hat, in bestimmte Räume vorzudringen und bestimmte Raumressourcen zu nutzen. Es gibt keinen Ort, kein Territorium, wo keine Instrumentalisierung stattfinden würde.
Dasselbe gilt auch für den öffentlichen Raum. Eine Stadtverwaltung bewilligt Interventionen nur dann, wenn sie sich einen Mehrwert verspricht. Wir hatten so viele Treffen und Bewilligungsverfahren mit Bezirksvorstehern, und die brauchen ein Argument, warum das toll sei. Diese Phasen von anarchischen Zwischenräumen, die es manchmal gibt, die gehen nur für ganz kurze Zeit und auch nur in radikalen ökonomischen und politischen Umbruchsituationen, die aber sofort institutionalisiert werden. Das Kunsthaus Tacheles oder die Ausstellungen in der Margarinefabrik in Berlin wären Beispiele dafür. Die Frage ist, wie man auswählt und wie man sich dazu verhält.

A: Die Produktionen des theatercombinats sind keine klassische Unterhaltungsware, als Besucher fühlt man sich oft im doppelten Sinn überfordert, sowohl körperlich als auch geistig. Leute verlassen die Vorstellungen, noch bevor sie zu Ende sind. Es ist schwierig, etwas Inhaltliches und Politisches rauszuholen. Das theatercombinat macht aber – zumindest laut Homepage und Programmheften – politisches Theater.

C.B.: Es ist kein Unterhaltungsprogramm, und es gibt Situationen, wo das Sich-Hinaus- und wieder Hineinbegeben Teil der Aufführung ist. Die erste Produktion in Wien mit Josef Szeiler dauerte 36 Stunden. Klar ging es dabei auch ums Physische.
Die Frage ist: Was bin ich gewöhnt zu konsumieren? Ich bin felsenfest davon überzeugt – das mag eine rüde Haltung sein –, wenn man sich wachen Sinnes Zeit gibt, sich mit dem Gebotenen zu konfrontieren, holt man etwas raus. Ich kann aber niemanden zwingen, das zu tun, und es mag sein, dass bestimmte zugänglichere Führungsgesten fehlen.
Natürlich sind es auch die Räume, die uns konventionalisieren. Wenn ich mir im Burgtheater eine drei Stunden dauernde Aufführung anschaue, kann ich gemütlich in meinem warmen Sessel wegnicken und muss nicht meinen Hintern von A nach B bewegen. Die intellektuelle und körperliche Überforderung ist ein interessantes Thema, aber nicht um zu sagen, ‹Du bist blöd› oder ‹überfordert›, sondern darin liegt für mich eine Art von Möglichkeit. Wann lese ich ein Buch, über das ich sagen kann, ich verstehe alles? Oft bleibe ich hängen, vielleicht nur an einem Satz, der mich aber zum Nachdenken bringt. Ich frage mich, ob solche Rezeptionshaltungen nicht interessanter sind, aber die werden immer mehr abgeschafft.

A: Bisher mussten sich die ZuschauerInnen selbst durch den Theaterraum bewegen, hier im Kartographischen Institut gibt es erstmals einen klassischen Zuschauerraum. Was ist sonst im Vergleich zu den vorangegangenen Produktionen anders?

C.B.: Das ist wirklich ein völlig neuer Versuch. Es geht nicht mehr darum, einem Textmonument gegenüberzustehen, wie das bei den «Tragödienproduzenten» der Fall war, sondern über unterschiedliche Textfragmente und Sounddokumente, Stücke zu entwerfen.
Für mich stellt sich die Frage: Was bewirkt es, wenn ich nicht nur mit Texten, die von Darstellern gesprochen werden, sondern auch mit Dokumenten, mit Stimmen, mit Sounds aus der Vergangenheit, Stücke baue? Im Grunde ist es der Versuch, mit diesen verschiedenen Materialien und Elementen über Gewalt, Individuum und Politik nachzudenken.

A: «vampires of the 21st century oder was also tun?» wird als «experimental-dokumentarische Performance» angekündigt, worum geht’s dabei?

C.B.: Ausgangspunkt für diese Arbeit war der nicht mehr taufrische Text «Transparenz des Bösen» von Jean Baudrillard (1929–2007, französischer Medientheoretiker, Philosoph und Soziologe; Anm.) aus den frühen 1990er Jahren, in dem er fragt: «Was tun nach der Orgie?» Die Orgie war für ihn die Befreiung der emanzipativen Kräfte, die politische Befreiung, die sexuelle Befreiung, die Befreiung der Kunst und dergleichen. «Heute ist alles befreit, das Spiel ist gespielt», heißt es in diesem Text, und ich möchte wissen, wie es heute noch möglich ist, mit bestimmten politischen Überzeugungen – auch ästhetisch – umzugehen. Dabei geht es auch um die Gewaltfrage, um staatliche und individuelle Gewalt und darum, wo noch Lebens- oder Handlungsoptionen zu finden sind.
Um staatliche Gewalt ging es zwar auch schon in den Arbeiten davor, aber es wird hier expliziter. Es geht sehr viel um Gegenwartsgeschichte, die Jahre 1989 und 2001 sind als paradigmatische Wendepunkte ganz wichtig. Nach den Tragödienproduzenten, die mit bereits geschriebenen Texten, mit bereits fertigen Tragödienentwürfen gearbeitet haben, ist es der Versuch, aus Materialfragmenten eine im weitesten Sinne zeitgenössische Tragödie zusammenzustellen.

http://www.augustin.or.at/article1620.htm


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der standard, 05.12.2010

"GESPENSTERSTIMMEN DER HISTORIE"
Von Margarete Affenzeller

Das theatercombinat von Claudia Bosse arbeitet in Performance mit historischen Tondokumenten aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft

Wien - Von welchen ideologischen Aussagen oder romantischen Vorstellungen ist (und war) eine Generation geprägt? Wo eckt man an mit Überzeugungen, die nicht en vogue sind? Gibt es kein anderes Lebensmodell mehr als die solitäre, vernetzwerkte, einsame Vergemeinschaftung, die aber letztlich folgenlos bleibt? Und überhaupt: Wo gibt es noch relevantes politisches Handeln? - In der neuesten Produktion des Wiener theatercombinats überwiegen die Fragen.

Regisseurin Claudia Bosse und ihre Gruppe gehen in Vampires of the 21st Century oder was also tun? archäologisch vor, um der Lähmung heutiger politischer Verhältnisse entgegenzuwirken. Kurz gesagt: Historische Tondokumente, von 1859 bis in die Gegenwart, treten wie Gespenster der Geschichte in Konfrontation zueinander und zu kanonisierten Texten sowie autobiografischen Aussagen der Performer: Ovid trifft auf Bram Stoker, eine Bush-Rede auf Baudrillard und uns.

Bosse, Christine Standfest (Dramaturgie) und Günther Auer (Sound) haben ein aus über tausend Dokumenten bestehendes Tonarchiv zusammengetragen, das in dem hiermit startenden, neuen politischen Arbeitszyklus die tragende Rolle spielen wird. (Die Sound-Performance hat am 8. 12. Wien-Premiere.)

Bosse beklagt das Verlorengehen von Utopien, das Versiegen von Träumen und die Verprivatisierung des Lebens. "In den Privaträumen wird der Verlust von Überzeugungen besprochen, aber es gibt keinen gesellschaftlichen Raum mehr dafür. Öffentliche Krisen werden privatisiert und haben keine Konsequenzen. Das finde ich furchtbar", so Bosse. "Zweifel zu formulieren, das kann man heutzutage noch bis maximal Mitte dreißig, dann hat man seine private Erfolgsstrategie zu verfolgen und Kapital zu akkumulieren."

Das theatercombinat zählt in Österreich in puncto Sprech- und Soundtechnik gewiss zu den höchst Ambitionierten. Es hat etwa den Schwarzenbergplatz oder das Haus des Meeres mit Jelineks bambiland akustisch geflutet oder Shakespeares Coriolan durch eine Straßenbahnremise gejagt. Ungewöhnliche Orte sind stets vonnöten, um so wirkmächtige Installationen/Performances zu schaffen, für die das theatercombinat auch ausgezeichnet wurde (Nestroy-Preis 2009 für die beste Off-Produktion).

Denkweisen aufbrechen

Im Fall von Vampires wurde die ehemalige Druckereihalle des Kartografischen Instituts in der Josefstadt mit blauen Vorhängen gesäumt. Es herrschen dabei Annehmlichkeiten, die dem nicht gerade gehätschelten Combinat-Publikum fremd erscheinen dürften: Der Raum ist beheizt, das Publikum darf (muss) sitzen. In dieser 700-Quadratmeter-Halle prallt das Materialkonvolut nach einem ausgeklügelten Kompositionsprinzip aufeinander.

Dabei wird nichts "dargestellt", sondern eine Narrationsform erschlossen, die sich über die Lücke zwischen Dokumenten und dem Gesagten ergibt. Die Aussagen und Fragen über politische Haltungen und Lebensmodelle und Sehnsüchte entstehen also im Kopf des Betrachters. Bosse, die Theater nachdrücklich als Mittel der Aufklärung und der Veränderung begreift, will mit Vampires festgefahrene Denkweisen aufbrechen und neue beschreiben, einen Gemeinschaftsraum öffnen, in dem Fragen generiert und neue Argumente gefunden werden.

Die Tondokumente zeigen Methoden des Sprechens, der Sprache und der Manipulation auf. Und es geht weiter: Am Watermill Center von Robert Wilson auf Long Island nimmt Bosse einen Sprachtransfer ins Englische und Französische vor, um zu sehen, wie sich dabei die Kontexte ändern. Das ist durchaus Maßarbeit: Der Atem ist anders, der Klang, das Verhältnis des Sprechers zur Sprache.

http://derstandard.at/1291454153183/Vampires-of-the-21st-Century-Gespensterstimmen-der-Historie


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der standard, 09.12.2010

"ALS DIE VAMPIRE NOCH "DAS KAPITAL" LASEN"
Von Ronald Pohl

Das Theatercombinat mit einem Konzert aus Körpern und Stimmen im Wiener Kartographischen Institut

Wien - Durch die 700 Quadratmeter große Druckereihalle des Wiener Kartographischen Instituts tönt die so gefasste wie angenehme Stimme Helmut Schmidts - jenes deutschen Bundeskanzlers, der im Bundestag der RAF jegliche moralische Legitimität absprach.

Auch wenn der hochbetagte Altkanzler noch kettenrauchend unter den Lebenden weilt: Die vor intellektueller Kälte klirrende Performance vampires of the 21st century oder was also tun? ist vor allem eine akustische Geisterséance. Beschworen werden von Regisseurin Claudia Bosse (Theatercombinat) und vier Schauspielern vornehmlich Verlustanzeigen: Zerstört sind die Erzählungen vom sozialen Zusammenhalt, das Leben ist zur Simulationsübung verkommen. Wer jetzt noch an die Macht des Umsturzes glaubt, ist, mit Verlaub: ein Trottel.

Die betörende Wirkung dieser aus Texten, Tonbändern und wie von Geisterhand bewegten Schauspielern (Körper, Stimmen) zusammengesetzten Produktion resultiert aus dem Eindruck unnahbarer Strenge.

Bosses Ansatz - der Abend war bereits in Düsseldorf zu sehen - erzeugt die Wehmut gehobenen Feinschmeckertums: Man sieht den deklamierenden Schauspielern wie Planeten auf ihren Umlaufbahnen zu. Texte von Baudrillard, Seneca oder Marx tönen wie Gruftgesänge aus dem Langzeitgedächtnis der menschlichen Einbildungskraft herüber.

Jeder Gang auf hohen Absätzen erscheint als choreografiertes Wagnis. Jede biografische Einlassung eines Akteurs dokumentiert eine Niederlage. Man wird nicht warm mit dem Abend. Aber man muss ihn hochschätzen.

http://derstandard.at/1291454734219/Als-die-Vampire-noch-Das-Kapital-lasen


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  süddeutsche zeitung, 10.12.2010

WAS TUN NACH DER ORGIE?
Von Susanne Drees

Mit morbider Romantik haben diese Vampire wenig zu tun. Was Claudia Bosse ihren Zuschauern mit "Vampires of the 21th Century" antut, ist eigentlich eine Frechheit: Es ist die totale Überforderung.

Eine junge Frau beschreibt ihr Leben im Futur. Wer wird sie sein, was wird ihr passieren, welche Menschen werden ihren Weg kreuzen? Lautsprecher erzählen ihre Geschichte. In dem Raum gibt es nur auf den ersten Blick eine Trennung zwischen Publikum und theatralem Geschehen. Zwischen den Stuhlreihen agieren die Spieler, während eine laszive Stimme zu hören ist. Die junge Frau wird einen Mann kennenlernen. Sie werden sich lieben. Und dann wird sie ihm in einem Restaurant den Kopf abschlagen.

Die Gegenwart ist im Katz-und-Mausspiel von Realität und Fiktion immer schon impliziert. In Claudia Bosses Inszenierung "Vampires oft the 21th Century oder was also tun?" grätscht sie mit voller Wucht in die Utopien der Spieler, die in verbalen Snapshots und langen Wortkaskaden ihr Leben narrativieren. Mit der Gegenwart kommt immer auch die Gewalt, das Zerstörerische ins Spiel.

Claudia Bosse nennt das Autofiktion. Ein Schlagwort, mit dem die Regisseurin gerne arbeitet. Ein anderes ist das kompositorische Narrativ. Das alles klingt, wie der Raum aussieht, den Bosse zusammen mit ihrem Wiener Produktionskollektiv theatercombinat gewählt hat: technisch, kalt, durchstrukturiert. Im Forum Freies Theater Düsseldorf, mit dem das Stück koproduziert wurde, findet sich eine karge Fläche. Darauf vier Performer, zwei Frauen, zwei Männer. Die Struktur spielt eine Hauptrolle, sofern man in diesem apokalyptischen Szenario von Rollen sprechen kann. In Bedeutungseinheiten, Modulen des intertextuellen Spiels werden Physis und Worte verschnitten. Mal illustriert der Text die Spur des Körpers, mal kontrastiert er sie.

Claudia Bosses Vampire haben wenig mit dem in jüngster Mediengeschichte zigfach auferstandenen Wiedergänger zu tun. Keine morbide Romantik, keine in Mythen-Watte verpackten Schauergeschichten. Der Schauer ergibt sich aus dem Grenzgängertum der Spieler, die als Intellekt-Zombies durch ihr Lebenssystem wüten.

Der Raum wird in wechselnden Formationen eingenommen. Die Spieler deklamieren Textfragmente, die von Seneca über Marx bis Baudrillard reichen, sie schreien sie heraus oder spüren dem Rhythmus der Worte nach, sind mal mehr Verkünder, mal mehr Spieler. Sie rücken den Anwesenden im direkten wie übertragenden Sinne zu Leibe: In konzentrischen Kreisen nähern sich Caroline Decker, Frédérik Leidgens, Yoshi Maruoka und Nora Steinig dem Kern eines Gedankens, eines Statements, eines Kontextes. Versucht man diesen Bewegungen zu folgen, wird schnell klar: Man kann nur scheitern. Marxismus, Terrorismus, die Theorie und das System, Veräußerung, Aktionismus, Gewalt. Und immer sagt der Schmerz: Ich bin schon da.

Das Theater soll reinhauen und weh tun

Was Claudia Bosse tut, ihren Spieler und dem Publikum antut, ist eigentlich eine Frechheit. Es ist die totale Überforderung. Eine Weltmaschine, deren personifizierte Instrumentarien mal zu den Klängen von Saddam Husseins "Befreit-das-Volk"-Schreien während seiner Verurteilung tanzen, dann auf dem Schoß eines Zuschauers sitzen und nach der ultimativen Selbstoptimierung lechzen. Es ist eine Möglichkeit, heute politisches Theater zu zeigen, im wahrsten Sinne zu produzieren. Nicht eine Narration, sondern viele. Und nur solche, die sich im Kopf des Zuschauers immer wieder neu zusammensetzen. Bosses Theater soll vor allem eins: reinhauen. Weh tun.

Das ist mutig: Dieses Riesenarchiv an Sprache, demaskierend und erschlagend, ist im zeitgenössischen Theater eher unchic. Der Gestus ist fast nie ironisch gebrochen, er zwinkert nicht schelmisch, sondern donnert in Brusttönen der Entäußerung. Das hat nur selten etwas vom absurden Gegenwartskarussell eines René Pollesch. Wie ihre Tragödien-Reihe, in der die Regisseurin Stoffe aus Antike, Renaissance und Barock zu kollektiv erfahrbaren Diskursräumen modellierte, ist "Vampires of the 21th Century" mehr eine Aufforderung denn eine Inszenierung.

Den Höhepunkt bildete 2008 die Inszenierung der "Perser" von Aischylos, in der 300 Bürger einen riesigen Chor formierten. Die Rituale der Antike und ihre Spiegelung in der Gegenwart, sie waren lange ein Kernpunkt von Bosses Arbeit. Die vierte Wand, auch immer ein Schutzraum, wird nicht eingerissen. Sie ist gar nicht erst vorhanden. 1996 gründete Claudia Bosse zusammen mit drei anderen Künstlern das theatercombinat. Als künstlerische Leiterin formt sie mit Tänzern, Performern und Sound-Designern inzwischen einen flexiblen Bühnenkunstkörper, der Theater in leeren Fabrikhallen, Ruinen oder Schlachthöfen zeigt.

"Vampires of the 21th Century" ist eigentlich kein Theaterstück. Es ist zugleich Anfang und Ende einer Dialogschlacht, ein künstlerischer Wiedergänger. Er steht für eine kleine Theateroffenbarung: Die Grenzen des Mediums werden permeabel. "Was tun nach der Orgie?", schreit eine Spielerin ins Publikum. Eine Antwort könnte lauten: Ins Theater gehen. (Die Produktion ist derzeit in Wien im Kartographischen Institut zu sehen.)

http://www.sueddeutsche.de/kultur/vampir-theater-was-tun-nach-der-orgie-1.1034565


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corpus, 12.12.2010

ES IST EIN REVOLUTIONSSTÜCK!
Von Helmut Ploebst

Sobald eine Figur als künstlerische Fiktion und performative Realität vorgeführt wird, ist sie mehr als nur eine Verlautbarungsmarionette oder ein Erzählgolem. Durch die Wahrnehmung der Zuschauer wird die Figur zur politischen Konfiguration – zu einer diskursiven Gestalt, die vom Publikum, als „Erinnerung“ entstellt, mit nach Hause genommen wird. Wie diese Figur so neu konfiguriert werden kann, daß die Gestalt in der Wahrnehmung des Publikums nicht sofort wieder durch Klassifizierung entpolitisiert wird, zeigt das Wiener theatercombinat gerade in seiner jüngsten Arbeit vampires of the 21st century oder was also tun? im Wiener Kartographischen Institut.

In der Regie von Claudia Bosse tanzen Caroline Decker, Frédéric Leidgens, Yoshie Maruoka und Nora Steinig eine abgewandelte Vampirologie mit glossolalistischem Rauschempfinden ins Politische ein. Gerade zur richtigen Zeit. Denn sowohl die Medien als auch die Politik verlieren rapide an Vertrauen in der Bevölkerung, von der sie zunehmend als Fangzähne eines großen Blutsaugers wahrgenommen werden, in dessen Geiselhaft sich die Menschen fühlen. Jene Menschen, die beispielsweise gerade für die Verbrechen größenwahnsinniger Spekulanten bezahlen müssen.

Das ungezügelte Wachstum des Saugers hat die europäischen Demokratien so geschwächt, daß sich deren RepräsentantInnen immer häufiger vor ihren Bevölkerungen desavouieren. Auch die Kunst steht vor einem Paradigmenwechsel, weil die gefühlten politischen Temperaturstürze der vergangenen zehn Jahre nun in tatsächliche umschlagen. Was vampires of the 21st century darstellt, ist nicht, was kommen könnte, sondern eine Struktur dessen, worauf das Kommende treffen könnte.

Mord bleibt Mord

Hier verwechselt Kunst sich nicht mit publizistischen Mediensegelschiffen, in deren Takelage sich die zeitgeschichtlichen Luftströmungen verfangen und diverse Hysteriegespenster vorgaukeln. Kunst als Kassandra, das war einmal. Es war ganz schön, und es wurde nicht im Mindesten ernst genommen. Das theatercombinat hat sich für eine andere Strategie entschieden. Es bleibt diesmal im – in Wien institutionenfreien – geschlossenen Raum, und es hat sich von diversem Theatertextmaterial getrennt.

Das ist auf der Ebene, die das theatercombinat bespielt, eine Maßnahme, die abführend auf jene Verstopfung im Theater wirkt, die sich bildet, wenn dort auf die Neuinterpretation bereits gewirkt habender Stoffe gesetzt wird. Oder wenn aufführend in die Betten genialischer Worthoteliers genäßt wird, die die Wirklichkeit in artifizielle Abstraktionswellness verwandeln, die letztlich nur auf sich selbst verweist. In vampires of the 21st century treten Zitate als Sprachfiguren auf, die mit ihren Performanzfiguren tanzen.

Und so sitzen die BesucherInnen zu Beginn da und lernen die vier Figuren im Stück eine nach der anderen als pompöse Projektionen kennen, verstörend in ihrer deklamatorischen Künstlichkeit, die Wort und Bewegung gleichermaßen betrifft. Und Helmut Schmidt beschwört vom Band die Behandlung der RAF-Thrombose der BRD in den Siebzigern: Mord bleibe Mord, sagt der deutsche Ex-Kanzler, auch wenn er aus politischen Gründen erfolgt.

Das Gespenst der politischen Rede

Und schon integriert sich sich die Wahrnehmung in ein historisches Performativ, das sich als Übersetzung über 9/11 und den Folgen ins Heute hineinstreckt. Alle vier AkteurInnen sprechen deutsch mit Akzent. Einem Akzent, der diese Sprache als Fremdsprache auftreten läßt. Die pathetischen Körper und der deklamatorische Duktus der Sprache führen die vier Figuren als über ihre Stränge schlagende Verlautbarungsmarionetten durch den weiten Raum des Kartografischen Instituts. Ein Gespenst geht um in Europa, heißt es zu Beginn, und was folgt, ist das Gespenst der politischen Rede, das seinen Höhepunkt in einem dramatischen Vortrag des Inhaltsverzeichnisses von Karl Marx’ Das Kapital erlebt.

Im Aneinanderfügen und Überfalten des Zitatenmaterials entsteht aber kein zynischer Nihilismus, sondern eine Komödie über die Vergeblichkeit in einem historischen Panoptikum. Wer auch immer bisher den Lauf der Geschichte lenken wollte, hat ganz böse Unfälle verursacht. Das wissen wir heute. Denn Geschichte besteht aus sich selbst generierenden, letztlich unkontrollierbaren Kommunikationen. Wir folgen keinen Führern mehr. Was also tun? Wie navigieren? Die vier Figuren im Stück durchmessen den Raum, eilend, tanzend und hampelnd, immer nahe an der Lächerlichkeit. Ulrike Meinhof, Neil Armstrong, Nan Goldin, George Bush huschen vorbei. Was tun nach der Orgie, dem Blutrausch, der Abzocke, dem Raub?

Was tut die politische Linke, wenn sie sich so schwer tut damit, daß sie alternativlos noch einmal ganz von vorne anfangen muß? Kann sie an ihrer historischen „roten Leine“ zu neuer Erfüllung finden? Wir wissen es nicht. Es ist eine dringende Frage: Wird die Zukunft wieder in Richtung Vergangenheit stürmen, wenn „der kommende Aufstand“ Form annimmt?

„Ich möchte endlich lernen zu leben“, sagen die Figuren zum Schluß. Marx’ Gespenster tanzen vor dem Vampir, dem Sauger. Was tun sie da? Verwirren sie ihn in seinem Exzeß? Oder: Wann und wie gelingt es der Kunst, die Logiken des Blutsäufers so durcheinanderzubringen, daß dessen Gefäße Leck schlagen? Mit vampires of the 21st century ist dem theatercombinat ein Revolutionsstück gelungen, ganz sicher. Die künftige Revolution ist bereits im Gange, hören wir ab und zu. Das könnte stimmen. Dieses Revolutionsstück vollzieht etwas, das auch Kennzeichen einer zentrums- und formlosen Umwälzung sein kann: Es defiguriert in krassem Realismus alle Schemen gerichteter Programmatik oder Ideologie.

Wir schrecken auf und erkennen, daß schließlich auch das Denken – nach der Technologie – in einer neuen Zeit ankommt. Wir haben den Knoblauch, die Pflöcke und das Wissen auch schon beinahe. Wir leben in einer Müdigkeitsgesellschaft, die ein neues Enlightenment träumt. Und das Licht, siehe WikiLeaks, brennt Löcher in den Körper des Vampirs.

http://www.corpusweb.net/es-ist-ein-revolutionsstueck.html


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theaterheute, februar 2011

HYBRIDE FRAGE
Von Martin Krumbholz

„Vampires of the 21st Century oder Was also tun?“ (Forum Freies Theater)

Was also tun? Theater spielen! Für diese Antwort hat sich die Regisseurin Claudia Bosse entschieden, die in Wien ihr «theatercombinat» mit wechselnden Besetzungen betreibt; ihre jüngste Produktion mit dem Titel «Vampires of the 21st Century oder Was also tun?» wurde am FFT in Düsseldorf erarbeitet. Es geht um Liebe (bzw. Beziehungen), um parlamentarische Demokratie, um Terror, um Vampire (im metaphorischen Sinn), mit einem Wort: um alles.

Als «wuchernde mediale Hybride» lässt Claudia Bosse ihre Arbeiten gern bezeichnen, die einerseits Hörspiel, andererseits Choreographie sind, einerseits «Autofiktion», andererseits politische Dokumentation.

Die Bühne besteht aus einer kleinen Batterie von Lautsprecherboxen, aus denen jene «Sounddokumente» strömen, die Claudia Bosse gesammelt hat und die sie symptomatisch findet für das globale politische Klima der letzten vierzig Jahre - also für den Zeitraum, der seit 1968 und der Studentenrevolte vergangen ist. Man hört beispielsweise die Stimme der jungen Ulrike Meinhof, die über die Unvereinbarkeit von maßvoller Kindererziehung und maßloser politischer Aktion klagt; man hört später die Stimme des Kanzlers Helmut Schmidt, der vor dem Bundestag in geschliffener Diktion darlegt, dass «der Staat» in der Krisensituation der Schleyer Entführung nichts androhen dürfe, was er nicht tatsächlich in die Tat umzusetzen gedenke. Hier steht Moral gegen Moral, und sollte man als Zuhörer die Frage beantworten, welche dieser Argumentationen triftiger klingt, käme man kaum umhin zu befinden: die des staatsfrommen Kanzlers Schmidt.

Aber wahrscheinlich geht es an diesem Abend gar nicht um einen präzise kalkulierbaren Erkenntnisgewinn, sondern um die Interaktion zwischen den vier Performern, also Schauspielern und Tänzern, und eben den Sounddokumenten, die auf ihre Inhalte gar nicht so sehr geprüft werden, sondern als Reizauslöser dienen - als (in diesem Fall semantische) Situationen, an denen sich Emotionen oder auch nur indifferente Erinnerungen der Zuschauer entzünden. Das Publikum bildet seinerseits den dritten Eckpunkt der szenischen Triangel, als die der Abend sich beschreiben lässt: Denn die Spieler gehen das Publikum physisch an, tänzeln durch die Reihen, stolpern über ausgestreckte Füsse, setzen sich auch mal jemandem auf den Schoß - und der herrschaftsfreie Diskurs, der sich im Hintergrund abzeichnen mag, würde dann perfekt, wenn der eine oder andere Zuschauer sich tatsächlich inter-aktivieren ließe und etwa sein eigenes autofiktionales Scherflein zum Ganzen beitrüge. Stattdessen behausen vier tolle Akteure mit Engagement, Grazie und Charisma die ausgewählten Textruinen derart intensiv, dass man dabei kaum noch an Gespenster oder Vampire denkt. Alle vier beleben die ihnen zugeschriebenen Textpassagen, seien sie semi-, auto- oder überhaupt nicht fiktional, durch intensivste theatrale Mund·zu·Mund· Beatmung, selbst dann, wenn es sich dabei um das seitenlange Inhaltsverzeichnis des «Kapital» von Karl Marx handelt. Namentlich die junge Westschweizerin Nora Steinig tut sich hervor, schon deshalb, weil in ihrem Spiel Sprache und Fremdsprache, nämlich: Körperausdruck und französischer Akzent, eine wundervolle Symbiose eingehen.



www.theatercombinat.com theatrale produktion und rezeption