theatercombinat | proben ab märz 2001 | aufführungen april/mai 2002 anatomie sade/wittgenstein – 4 x 111 minuten skizzen, ehemalige lederfabrik, johannagasse 2, 1050 wien (a)

sprache: deutsch

kritiken
publikation
buchrezensionen

eine theaterarbeit in 3 architekturen

body and building under construction (IP.TWO)

body, building and theory under construction (IP.TWO)


embody (halle g)

 

ab märz 2001 arbeiteten die spieler von theatercombinat 8 monate gleichzeitig auf mehreren etagen des 5-stöckigen gebäudes im 5. wiener gemeindebezirk mit claudia bosse an individuellem bewegungsmaterial für anatomie sade/wittgenstein, ohne kenntnis vom arbeitsmaterial der mitspieler. die kommunikation darüber war «verboten»: moment eines arbeitsversuchs, der in physische und soziale formierungen eingreift. nach dieser zeit begannen improvisations-, kombinations- und kompositionsversuche mit allen - ein spezifischer arbeitsansatz nach 2 jahren chorrecherche zu massakermykene.

im april/mai 2002 fanden 4 zuschauerversuche statt, die 111 minuten skizzen. zu jeder dieser skizzen wurde je eine zuschauergruppe exklusiv in die johannagasse im 5. bezirk eingeladen: eine untersuchung des repräsentations- und rezeptionsverhaltens unterschiedlicher sozialer gruppierungen innerhalb unserer arbeit.

die skizzen folgten einer gleichen zeitdauer und struktur und einem ähnlichen ablauf. sie untersuchten inwieweit unterschiedliche zuschauergruppen sich unterschiedlich verhalten und rezipieren, und so eventuell völlig andere gesamtabläufe entstehen, oder die spieler sich innerhalb der 111 minuten struktur komplett anders verhalten müssen. 111 minuten orientierte sich als zahl an de sades «111 notizen zur neuen justine», um ausschnitte aus dem zeitlich unbegrenzten choreographischen material zu konstruieren.


 

konzept, choreographie: claudia bosse, choreographie, spiel: markus keim, andreas pronegg, christine standfest, doris uhlich

1. skizze mit freunden und kollegen am 26.04.2002
2. mit unseren nachbarn und anwohnern der gemeindebauten am 4.05.2002
3. mit älteren damen am 8.05.2002
4. mit studenten der formalen logik und einem vortrag von prof. ralf schindler über wittgensteins «tractatus logico-philosophicus» inmitten der performance.

mit freundlicher unterstützung der stadt wien und der fa. porr.


111 minuten skizzen/zuschauerversuche
claudia bosse

  das zeitliche raster eine willkürliche struktur: 111 notizen zur neuen justine=111 minuten skizzen anatomie sade/wittgenstein. das material passend machen für diesen zeitrahmen, der allen vier anvisierten zuschauergruppen die möglichkeit lässt, dem vorschlag zu folgen und es für uns noch möglich bleibt, reaktionen zu bekommen.

es gibt über die zeit entwickelte «selbstverständliche» rhythmen und bewegungsformen, eine eigene logik der zusammensetzung und unserer interen arbeitskommunikation, die viel über intimitäten arbeitet und versucht, authentizitäten zu sichten unter der flut künstlerischer und sozialer zitate.

durch die unterschiedlichen zuschauergruppen ergreifen immer andere wertsysteme, soziale ordnungen, rhythmen und spuren von bewegung, rhythmen von erwartung und aufmerksamkeit den raum. die ordnung unseres materials variiert in sich minimal und in der reaktion auf den betrachter enorm, ohne dass sich ihre «äussere form» großartig verändert, jedoch das, was mit der jeweiligen fügung des körpers in bewegung verhandelt wird. der inhalt verschiebt sich über das veränderte benutzen der form.

zudem verschiebt sich die wertigkeit des einzelnen gestalteten moments durch den betrachter einer betrachtergruppe, auch durch die gegenseitige soziale kontrolle/beobachtung. dadurch ergibt und verschiebt /verändert sich jedes mal «das gesamte» und das dargestellte des «formalformiertenbewegungsdarstellers» gegenüber dem rein "sozialformierten" darsteller (dem sogenannten zuschauer). es scheint zwar einfach oder ohnehin selbstverständlich: es gibt keine bedeutung oder keinen wert einer darstellung an sich, selbst wenn sie etwas bestimmtes meinen würde. aber das ist genau der punkt, wenn man in offenen räumen/in offenen systemen arbeitet und den einbrechenden wertmustern einen raum gibt. dann kann sich aus dem «ähnlichen» (meint den ablauf und das material der spieler) immer ein «anderes» ergeben. die bedeutungsmuster ergeben sich erst aus den sozialen oder wahrnehmungsstrukturen der sogenannten zuschauer. deshalb waren die wirkung oder die schmerzgrenzen für die betrachter so unterschiedlich. für die nachbarn, die alle sehr schön bekleidet kamen, fein gemacht für theater z.b., war allein der schmutz unseres hauses eine zumutung. die meisten waren weit über 60 jahre, sie konnten die treppen des hauses nur schwer ersteigen, waren also weit weniger beweglich, aber in dem sehr flüchtig und schnell, weil das angebot sich so stark von ihrer erwartung unterschied. eine frau mit dicken knien schrie immer wieder «wo ist denn hier das theater?» und bemerkte nicht, dass sie damit zur protagonistin desselben wurde.

für die besucher heisst das, wenn sie sich in unsere 111 minuten skizze begeben, keine versicherung in einem zu ende bedeuteten kontext, dem man sich wie üblich als betrachter unterwirft oder versucht ihn nachzuvollziehen. so können einzelne elemente der bewegung unterschiedlich umgedeutet werden. das scheint zuweilen brutal und für die, die es anbieten, wie eine enteignung /anmassung. dies ist aber dennoch genau die möglichkeit, wenn der betrachter den gewohnten bedeutungscode, der den körper nur über den intellekt erreicht, verweigert und seine gewohnte rezeption ins wanken gerät. wenn der betrachter nicht mehr reflexiv trennen kann zwischen «was ist gemeint vom künstler?», «was hat das mit mir zu tun?», «warum ist mir unwohl?» (privat oder als energetische reaktion in unserem theatralen system), sondern fragen auftauchen wie: «wie ist mein körper, weicht er aus, drängt er sich vor, wie bin ich geprägt in meinem sozialen agieren» etc. und alles unter der aufmerksamkeit aller, meiner werten person, der spieler und der anderen besucher.

schwierig war ein halber versuch mit ca. 10 menschen aus freundeskreis und szene, die das vorhandene haltlos akzeptierten, sich dem einfügten, «verstehen» demonstrierten. dadurch entglitt uns, den spielern und auch mir die skandierung der zeit, die erst durch diesen konflikt stattfinden kann. die vorwegnehmend wissende betrachtung des kunstschaffenden, der mit seinem rhythmischen verständnis alles einebnet. oder aber wir diesem einverständnis verfielen.

bei der ersten 111 minuten skizze, wurde ein zuschauer zu einer art energetischer vice figur im shakespeareschen sinne, ein mittler/provokateur zwischen besuchern und spielern. er heizte emotional enorm die atmosphäre an, weil er störte, penetrant war, sich den raum nahm. und von uns ihn wiederum niemand verwies (ausser chris mit dem bier) was wichtig war. andererseits entlud er durch schlagen gegen einen gegenstand eine in diesem zeit-wahrnehmungskonflikt von besuchern und spielern aufgestaute agression, manifestierte das unsichtbare, agierte direkt, «unzivilisiert» wie ein kind und definierte damit etwas vorhandenes und polarisierte wiederum spieler und betrachter, schaffte für alle eine unsichere situation, deren eh unsichere grenzmarkierung sich noch weiter verschob, weil die akzeptanz eines verhaltenscodes nicht abzusehen war, der sich bei den anderen merkwürdig ähnlich, wenn auch unterschiedlich abzuzeichnen schien.

 

notat über den «ältere-damen-zuschauerversuch»
christine standfest

  sie kommen. die ersten drei. ich stehe an der schwelle zwischen hof und einfahrt, dem gerümpel, dem motor. es ist heiß, ich schwitze unter meinen roten pullovern.
ich beginne mit der choreografie, seitlich den damen zugewendet. ich weiss nicht, wie ich mit den schamgrenzen verfahren soll. meinen und ihren - vielmehr der gemeinsamen berührungsfläche, die sich herstellt in dieser situation, irgendwo in der mitte zwischen ihnen und mir, auf der schnittlinie oder am kollisionspunkt der blicke oberhalb der unterleiber. warum nehme ich «scham» heute anders wahr/ vorweg, in mich, als sonst?

deutliche wahrnehmung zweier ebenen - des anschauens und des «geschehens». eine trägt eine 50iger jahre brille -reminiszenz an die verrucht-naive «brillenschlange», das dummchen, das sich in den vamp verwandelt. messerscharfe blicke dahinter hervor, die ihre eigene raumhöhe bilden - interessanterweise nicht auf mich herab, obwohl ich, den oberkörper nach vorne gebeugt - «von unten» schaue.
ernst und belustigt. sie zeigt «haltung». mir gegenüber, ihrer freundin gegenüber, mit der sie da ist, die unablässig spricht, manchmal mich anschaut, manchmal weg, zerstreut-lebhaft; die freundin spielt auch, etwas kokett, mit der vorgeschriebenen unsicherheit, die man in so einer situation zu haben hat als bürgerliche frau. eine dritte «liest» mich. ich weiss, sie fühlt sich ein. sie versucht, über eine von mir fast fleischlich gefühlte nähe in diesen vorgang zu schlüpfen, seine qualität zu schmecken, ihn durch ihren körper zu lassen, der schmal und breit, trocken und üppig zugleich ist - meinem ähnlich und fremd. fast möchte ich sagen hör auf, geh weg, du dringst in mich ein, das ist mir unheimlich. da gibt es nicht die kontaktfläche der blicke irgendwo im mittleren abstand, auf einer demokratischen oder vielleicht doch aristokratischen ebene von «haltung». trotzdem, bei allen, die in diesem moment da sind, und darunter ist kein mann, scheint ein paralleles einverständnis auf über die situation «frau», über den moment, dass sich dieses phänomen «geschlecht» andauernd erzeugt, arbeit ist. die situation gerahmt durch die generationen - drei sind da, man könnte sagen, die erwachsene tochter und enkelin, mutter und tochter, mutter und großmutter-generation - oder auch krieg, 68, post-68, feminismus, kommunismus.

das zumindest schießt mir durch den kopf, während des tuns, danach. beschreibbar als moment einer prüfung, überprüfung dieses materials «weibliches» geschlecht/unterleib - dessen ausstellung ich in dem moment zu besorgen habe, das allerdings durch diese drei so verschiedenen und keineswegs neutralen gegenüber mir selber gegenüber in drei gespalten wird. oder in vier - mich miteinbeziehend. in anderen konstellationen / situationen ist diese selbe übung keineswegs so explizit «weibliches geschlecht» - ein ganz anderes material, ein ganz anderer körper.

frage, was diese frauen da mit mir tun - mit «mir» als darstellerin meine ich - es trat ein der glücksfall, dass ich eine situation erzeuge in diesem setting, das in der johannagasse von allen beteiligten ständig erzeugt wurde und wird, ob in den proben oder mit zuschauern - der glücksfall einer situation, in der die präsenz, die kommunikation zwischen diesen drei ersten betrachterinnen und mir (und C.B. und g.m., die zu beginn noch anwesend sind, jedoch als beobachterinnen zweiter ordnung, die ich von meinem tun her nicht in die situation integriere, die sich nicht integrieren) wirklich meine «performance» bereichert, informiert, verändert, auflöst, zersprengt.

an dieser stelle weiß ich wieder, wovon ich schreibe - pathos, auch reminiszenz, in der isolierung der produktion ein utopischer moment, dessen sprache vielleicht nicht mehr wahr ist:

« unsere produktionen wären ebensoviele spiegel, woraus unser wesen sich entgegenleuchtete:
gesetzt, wir hätten als menschen produziert: jeder von uns hätte in seiner produktion sich selbst und den anderen doppelt bejaht.

ich hätte
1. in meiner produktion meine individualität, ihre eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der tätigkeit eine individuelle lebensäußerung genossen, als im anschauen des gegenstandes die überindividuelle freude, meine persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über allen zweifeln erhabene macht zu wissen,

2. in deinem genuß oder deinem gebrauch meines produkts hätte ich unmittelbar genuß, sowohl des bewusstseins, in meiner arbeit ein menschliches bedürfnis, als das menschliche wesen vergegenständlicht und daher dem bedürfnis eines anderen menschlichen wesens seinen entsprechenden gegenstand verschafft zu haben,

3. für dich der mittler zwischen dir und der gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als ergänzung deines wesens und als notwendiger teil deiner selbst gesehen, gewusst, empfunden zu werden, also sowohl in deinem denken wie in deiner liebe mich bestätigt zu wissen,

4. in meiner individuellen lebensäußerung unmittelbar deine lebensäußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen tätigkeit unmittelbar mein wahres menschliches, mein gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben;

unsere produktionen wären ebenso viele spiegel, woraus unser wesen sich entgegenleuchtete.» (marx)

aus: negt/kluge, geschichte und eigensinn, seite 907.

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