beiträge von:
barbara gronau
antonia frey
franz liebl
luisa goergen |
|
SCHLAF ALS KOLLEKTIVE ARCHITEKTUR
Zur Philosophie der suburbanen Schlafstadt
Babara Gronau
Ein GRUNDRECHT des Menschen ist der Schlaf. Schon die Bibel legt als Rechtsschutz für die Schwachen im 2. Buch Mose fest, dass der Mantel eines Armen, der ihm als 'Bettdeck' fungiert, nur bis zum Anbruch der Dunkelheit gepfändet werden darf:
"Wenn du den Mantel deines Nächsten zum Pfand nimmst, sollst du ihn wiedergeben, ehe die Sonne untergeht, denn sein Mantel ist seine einzige Decke für seinen Leib; worin soll er sonst schlafen? Wird er aber zu mir schreien, so werde ich ihn erhören, denn ich bin gnädig." (2 Mo 22,25)
Gottes Gnade kennt keine sozialen Unterschiede und lässt das Recht des Schlafes vor das des Besitzes (in diesem Fall des Pfänders) gehen. Das Recht auf Schlaf ist an ein Recht auf einen Schlafplatz, einen spezifischen Ort, gekoppelt. Die Schlafdecke, die gleichzeitig die Minimalversion des Bettes darstellt, kann als Grundmodell dieses Ortes gelesen werden. Sie fungiert als Rückzugsgebiet gegenüber der bedrohlichen Außenwelt und ermöglicht dem Menschen Geborgenheit, Ruhe und die Regeneration seiner Kräfte. Gleichzeitig erzwingt das Bett eine körperliche Lage im Raum, bei der wir unsere grundlegende räumlich-motorische Ausgangsposition - nämlich die aufrechte Haltung - verlassen, und uns schlafend in eine nichtintentionale 'Situation' begeben . In dieser Hinsicht markiert das Bett den Beginn des Unverfügbaren. Der Schlafplatz wird zum Ort des ANDEREN am menschlichen Dasein - dem Anderen als nicht-wachen; nicht-wahrnehmen; nicht-arbeiten, nicht-essen.... Im Schlafen ruht der Mensch von seinem Menschsein aus. Indem der Schlaf den GRENZBEREICH des menschlichen Daseins markiert, rückt er zugleich in den Bereich des Suspekten: Traum (hypnos) und Tod (thanatos) sind schon in der antiken Mythologie seine Verwandten.
Dieses "Dasein auf der Grenze des Menschlichen" scheint sich in der Vorstadt - die mit der Industrialisierung zur SCHLAFSTADT wird - auch räumlich auszudrücken. Denn das Schicksal der Vorstadt ist das der Peripherie: sie ist weder Stadt, noch Land. Die Vorstadt ist eine Zone, die keine klare Identität zu haben scheint. Die Vorstadt schläft oder besser: sie befindet sich in einem permanenten Dämmerzustand.
ragt man nun nach der Vorstadt als Symbol KOLLEKTIVER ARCHITEKTUREN, so lassen sich zwei Fragen stellen:
1) Welche Art des Kollektivs wird in der Vorstadt gebildet?
2) Welche symbolische Dimension besitzen diese Schlaf-Kollektive?
Die Vorstadt ist keineswegs eine Erfindung der Moderne: schon die assyrischen Hochkulturen kannten Vorstädte als bewohnte Handelszonen vor der Stadtmauer. Die Vorstadt ist hier eine Zone der NOMADEN: sie gewährt Umherziehenden ohne Stadtrecht die Möglichkeit des ökonomischen Austausches. Die Vorstadt dieses Typus imitiert die Stadt und deren wirtschaftlichen Betrieb, ohne jedoch deren Gesetze zu übernehmen. Wird die Vorstadt dabei zu erfolgreich, also zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz, so wird sie eingemeindet und verschwindet im Körper der Stadt. Sie bildet eine temporäre, vielleicht avantgardistische Version des Urbanen. Auch im Mittelalter und in der frühen Neuzeit setzen sich die Bewohner der Vorstädte aus 'problematischen' Mitgliedern der Gemeinschaft zusammen: Henker, Prostituierte, Kranke aber auch Verurteilte leben an oder vor den Stadtgrenzen. Ihr fragwürdiger sozialer Status spiegelt sich in der Verbannung in eine räumliche Grenzzone - eine Parallele, die heute noch in der Metapher von der RANDGRUPPE virulent ist. In diesem Zusammenhang muss auch die Ghettoisierung der jüdischen Stadtbevölkerung genannt werden, die seit der Renaissance immer wieder gängige politische Praxis war. Die Abriegelung der jüdischen Wohnviertel (Venedig: Zugbrücken) zeugt von den Kontaminationsängsten des christlichen Abendlandes gegenüber dem Fremden.
Mit der Industrialisierung entstehen neue Formen des sozialen Elends in der Vorstadt: die verarmte Bauern, die zur Stadt drängen / bzw. Handwerker, die aus ihr verdrängt werden, leben in temporären, notdürftigen Baracken, die erst im Laufe des 19. Jhs. zu den uns bekannten Reihenhaussiedlungen werden. So wird die ARBEITERKLASSE in der Vorstadt geboren. Nicht zuletzt ist die Vorstadt eine Zone des Todes und der Toten. Die seit dem 18.Jh. kontinuierlich aus der Stadt ausgesiedelten Friedhöfe bilden kollektive Architekturen eines mythischen ETERNAL SLEEP.
Mit dem 20 Jh. lassen sich vor allem zwei grundsätzliche Typen der Vorstadt unterscheiden: a) die (vorwiegend amerikanische) Mittelklasse-Einfamilienhaus-Siedlung, b) die mehrstöckigen Plattenbausiedlungen (bevorzugt sozialistische Länder). Beide Formen spiegeln die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Utopien wieder:
Die einzelstehenden Häuser der amerikanischen Suburbs (Queens) inszenieren ein vor-modernes bürgerliches Glück. Hier trifft der Traum von der eigenen kleinen Farm mit dem Symbol des amerikanischen Fortschritts zusammen: dem Auto. Erst das Auto verbindet Stadt und Vorstadt, erst mit dem Auto kann die selbstgewählte vorstädtische ISOLATION überwunden werden. Die Verschmelzung von Körper und Maschine tritt in der amerikanischen "Carchitecture" prägnant ins Bild: erst Haus und Auto gemeinsam bilden das Wohnkörpermodul der Vorstadt. Während die Reihenhaus-Suburbs also die IDEOLOGIE DES PRIVATEN feiern, symbolisieren die Hochhaus-Plattenbausiedlungen die Abschaffung des Privaten. Erwachsen aus den frühmodernen Idealen der Hygiene, Praktikabilität und Normierung werden sie mit der Utopie des "neuen Menschen" besonders von den sozialistischen Staaten als neue Lebensweisen verstanden. In Gropius "Wohnmaschinen" verschmelzen Mensch und Wohnraum zu einer organischen Einheit, in der alle Lebensfragen nur energetisch-technische Probleme bedeuten. Gegen die Ideologie der Individualität wird nun eine Logik "gleichartiger Massenbedürfnisse" gesetzt, deren utilitaristischer Stil sich dem Maschinendenken der zeitgenössischen Industriemoderne verdankt.
Beide Vorstadtformen existieren aus der Ideologie der SERIE. Die Serie wiederholt und variiert eine normierte Grundform. So scheinen alle Vorstädte der Welt sich auf beängstigende Weise zu gleichen: die ewig gleichen Gehwegplatten, Werbeflächen, Fensterrahmen und Straßenlaternen scheinen die Suburbs der Welt zu beherrschen. Die Vorstadt erscheint als eigenschaftslose Stadt, als architektonischer KLON. Ist diese Identitätslosigkeit zu bedauern ? Oder - um mit Rem Koolhaas zu fragen: "Was sind die Nachteile der Identität oder was ist der Vorteil der vorstädtischen Eigenschaftslosigkeit?" Koolhaas hat mit Nachdruck darauf verwiesen, dass die Konzepte "Identität" und "Historizität" längst nicht mehr (wenn überhaupt jemals) Garantien für das "organische Wachstum" einer Stadt gewähren. Die historischen Stadtzentren sind längst verfallen oder verharren in einer erstickenden Konservierung. Die Altstadt ist längst Simulacrum ihrer selbst (Düsseldorf). Von einer solchen Ideologie der Identität aus betrachtet, erscheint die Vorstadt nur als hässliche (Eintönigkeit) oder gefährliche (die Vorstadtgang) Bedrohung des Zentrums. Ihre Abwertung lässt das urbane Zentrum in einer zweifelhaften Pittoreske um so mehr erstrahlen. Dem Überschuss an suburbanem Raum, auf dem sich Matratzenmärkte und Gartencenter wie Kuhfladen ausgebreitet haben, steht die gedrängte Fußgängerzone während der RUSHHOUR gegenüber. Wenn die Stadt für den ökonomischen Cashflow steht, verkörpert die Vorstadt das SCHLAFENDE GELD. Hier regeneriert sich die Ökonomie und findet gleichzeitig ihren eigentlichen Ausdruck: als Abbild menschlicher Bedürftigkeit (-> Bettdecke). Aus einer kritischen Position gesprochen, steht die kommunikative und soziale Ereignislosigkeit der Vorstadt für die Tristesse des inkorporierten kapitalistischen Systems, in dem die HUMAN RESOURCES in einem lückenlosen ökonomischen Kreislauf eingeschlossen sind. Von einer postmarxistischen Position aus ließe die Vorstadt sich aber auch als Geburtsort des modernen Subjekts lesen, dass sich vom Konzept der Geschichte und ihren Räumen abgewandt hat und aus nichthierarchischen leeren Strukturen wächst. Koolhaas: "Die eigenschaftslose Stadt ist eine Stadt, die der Zwangsjacke der Identität entkommen ist. Sie ist nichts als eine Widerspiegelung gegenwärtiger Bedürfnisse und Fähigkeiten. Es handelt sich um eine Stadt ohne Geschichte. Sie bietet jedem genügend Platz. Sie ist unkompliziert. Wird sie zu klein, dann expandiert sie einfach, wird sie zu alt, dann zerstört sie sich, um wider bei Null anzufangen, Sie ist überall gleich aufregend und gleich langweilig. Sie ist oberflächlich. Sie kann jeden Montagmorgen eine neue Identität produzieren, wie ein Filmstudio in Hollywood."
Hier begegnen sich Vorstadt und Theater. Denn beiden gemeinsam ist Situation einer leeren Bühnenfläche, die durch verschiedene Inszenierungsstrategien gefüllt wird. Auf dem Hintergrund dieser Leere erscheinen Bedürfnisse, Träume, Geschichten als Gegenwart. Die Vorstadt mag uns desillusionierend erscheinen, in Wirklichkeit ist sie eine riesengroße Illusionsmaschine. Sie ist eine einzige Bühne (oder eine Leinwand) auf der die Träume ihrer schlafenden Bewohner immer neu zu architektonischen Zeichen gerinnen. |