firma raumforschung

modul 11   vortrag von dr. felicitas thun, gehalten am 15.11.2004



 Raumkrise und Raumobsession- vom karthographischen Blick zum synchronistischen Erfahren

Geschwindigkeit und die darauf folgenden Veränderungen des Raumes sind jene Eckpunkte, welche die Entwicklung der Kulturen des 20. Jahrhunderts grundlegend gestaltet haben. Foucault bezeichnet es als das Jahrhundert des Raumes, während das 19. Jahrhundert vom Paradigma der zeitlichen Prozesse und der Fetischisierung des Fortschrittsgedankens der Geschichtsphilosophie geprägt gewesen sei. Tatsächlich haben sich für den modernen Menschen – also jenen Teil der Menschheit, der am beinahe ungezügelten Fortschritt der industriellen Revolution und jener der Informationstechnologien teilnehmen kann – die Möglichkeiten, Raum theoretisch und praktisch zu begreifen, radikal verändert. Die Erkenntnisse der Wissenschaft und Technologie haben zur Expansion der Menschen ins Weltall geführt und es ihnen ermöglicht, den Planeten Erde aus der Distanz zu dokumentieren. In Bereichen wie Chemie und Medizin wurden Fortschritte mit revolutionären Auswirkungen gemacht, die von der artifiziellen Reproduktion von Organen bis zur künstlichen Reproduktion ganzer Organismen reichen. Zugleich hat die industrielle Revolution titanische Energien freigesetzt, die zu den fürchterlichsten ideologischen Verwerfungen und daraus resultierenden Vernichtungsorgien in der Geschichte der Menschheit geführt haben. Der Zusammenprall der Ideologien und Kulturen war so immens, dass ihr Kampf sogar den Einsatz der effektivsten je entwickelten Tötungstechnologien legitimierte: die kollektive Vernichtungsmaschine des Holocaust und die Anwendung zweier Atombomben.
Gegenwärtig, da sich der Schwerpunkt auf Informationsvermittlung, also Medialität im Allgemeinen, konzentriert, haben horizontal strukturierte Räume große Präsenz. Diese Intensität, die Komplexität und Geschwindigkeit des Informationsflusses und die dabei erzeugte Bilddichte haben direkt auf die Kunst zugegriffen und ihr Reaktionen abverlangt.
Auf annähernd zweidimensionalen Ebenen, in den real mit flachen Microchips konstruierten Systemen, bewegen sich die Bilder und Textzeichen mit rasender Geschwindigkeit, und ihre pulsierende Dynamik besetzt die neuen Bildflächen, die Projektionsräume, Displays, Interfaces und Schirme mit suggestiver Energie. Neue Generationen von Technologien bewegen Informationen in Größenordnungen, die in ihrer Quantität, Dichte und Geschwindigkeit jegliches Wissensvermögen übersteigen und dem Bewusstsein den Eindruck eines unendlich großen Informationsraums vermitteln.
Diese explosive Entwicklung des Raumes, dem ja durch seine virtuelle Natur in gewisser Weise halluzinatorisches Wesen zukommt, ist ein kulturgeschichtlicher Vorgang, der mit bereits stattgefundenen, ebenso grundlegenden paradigmatischen Veränderungen in der Humankultur verglichen werden kann. Er kommt in seiner Bedeutung den vor etwa 3000 Jahren in den Hochkulturen Chinas, des Industals und dem Zwischenstromland erfolgten Übergang von den nomadisierenden Jägern und Sammlern zu potentiell urbanisierten, also sesshaften Betreibern von Ackerbau und Produzenten handelbarer Güter nahe. Vergleichbar ist diese Entwicklung aber auch mit dem Beginn der Modernen Welt, des europäischen Erfindungsschubs des 18. Jahrhunderts, der Epoche der Industrialisierung und der beginnenden, potentiell globalisierten Warenströme, die im Grunde schon vor etwa 600 Jahren durch den Gebrauch von Kompass, Schiffs- und Segeltechnologien, der Kenntnis ozeanischer Windstrukturen und der Entwicklung wirkungsvoller Waffen, wie beispielsweise Schiffskanonen, motiviert wurden.
Die Raumkonzepte der Bewohner der ersten Hochkulturen haben zu Bauten geführt, die uns in ihren Dimensionen und auratischen Grundformen, den aufgetürmten Materialkonglomeraten der Ziggurate und Pyramiden, den monolytischen und mystisch minimalisierten Zylindern, Quadern und Kegeln, bis heute bestimmen. Die Moderne des 20. Jahrhunderts hat sie in einer Retrogeste ritueller Abstraktions- und Minimalisierungstendenzen von amerikanischen Literalisten wie Donald Judd und Richard Serra, aber vor allem in einer Entwicklung der direkten Repräsentation von Funktionalität und Profit in der Architektur analysierend variiert. Damals wie heute vermitteln uns diese Primärformen das Gewaltige, ja Starre des Festsetzens, die Autorität der Raumergreifung durch kulturelle Besetzung und erste Urbanisierung.
Dem steht die Betonung des Illusionismus der Perspektiven gegenüber, eine Dynamik, die vom Austausch begehrter Rohstoffe und Güter – dem Transport von Gewürzen, von Gold, Weihrauch und Genussmitteln wie Tabak, Kaffee und Tee – als einer Dynamik der Bewegung geprägt war und die neuzeitlichen Künste und die Architektur bis in das 20. Jahrhundert dominierte. Diese Mobilität haptischer Qualitäten gleicht in ihren Strukturen durchaus den aktuell intensivsten und rapiden Austauschprozessen der digital organisierten Informationen, nur wechseln im Zuge Letzterer nun nicht mehr faktisch erkennbare Objekte, sondern deren abstrakte zweidimensionale Symbole Ort und Besitzer – ein Vorgang, der von den Beteiligten die halluzinatorische Bewusstheit abstrakter Räume einfordert. Börsen, das Internet, digitale Waffensysteme werden von intelligenten, halluzinogen trainierten Individuen innerhalb extrem hierarchisch strukturierter Organisationen wie den großen globalen Geld- und Technologiekonzernen und den Militärstrukturen entwickelt, besessen und genützt. Hoch spezialisierte Fähigkeiten wie das Steuern von F-16-Kampfjets bedarf digital trainierter, jedoch unausgereifter, weil manipulierbarer Personen. Das ideale Alter, um in diesem Bereich die notwendigen Höchstleistungen zu erbringen, liegt zwischen 25 und 28 Jahren.
Sowohl die Kunst als auch die Architektur sind geprägt von Paradigmen und Metaphern der Selbstbeobachtung und Selbstbespiegelung – als ob der Geist den Körper verlassen und von außerhalb in angemessener eleganter Geschwindigkeit um sich selbst kreisend, analytisch auf sich blicken könnte. Monolytisches wurde dabei abgelöst vom dramatischen Bewegungsillusionismus der Kathedralen, der Freskenmalerei, der Panoramen des 19. Jahrhunderts und letztlich der Kinematographie.
Seit mehr als 100 Jahren läuft dieser Prozess des faktischen Eindringens in die Mikro- und Makrowelten der Dinge und Psychen revolutionär und mit umfassender Geschwindigkeit ab. Dies und die Tatsache, dass wir glaubhaft machen können, mit Möglichkeiten der medizinischen und biotechnischen Wissenschaften Grundstrukturen des Lebens zu kontrollieren und zu gestalten, ja uns möglicherweise partiell selbst auszutauschen, übersteigt die bisher dem Bewusstsein genügenden, kreisenden Bewegungen der kontemplativen Eigenbespiegelung. Die Harmonie der konzentrischen Kreise wird zu einem pulsierenden Zoomen zwischen Mikro- und Makrobereichen, ähnlich den Pulsschlägen der Quasare und den unmittelbaren Bewegungen der durch die Adern und Bereiche des Körperinneren vordringenden Mikrokameras der Chirurgen, ein Vorgang, den die Kunst inzwischen aufgegriffen, wissenschaftlich „entzweckt“und formal besetzt hat.
Ganz allgemein werden wir mit einer Pornographie des Organischen konfrontiert, die uns optisch öffnet, den Körper auf eine andere Art transparent werden lässt, ihn entheiligt, entkodiert und psychodramatisch distanziert.
Bewegung ist Raum. Und diese andere Qualität der Bewegung, diese gewaltige Expansion der Raumvorstellung nach außen, aber auch nach innen ist ein neuer fundamentaler Parameter, den Virilio als „exozentriert“ beschreibt.
Als Folge davon beobachtet er eine „egozentrische“ Regression, die, wie er meint, bereits eingesetzt hat und zu einer Rückkehr kleiner Kommunen wie beispielsweise „Stadtstaaten“ führen wird. In der Kunst hätte dieser Prozess mit der Rückkehr zum Körper, zur Performanz und damit zum Raum bereits begonnen.
Folgt man Virilios Gedanken, so bewegt sich das nachmoderne Subjekt auf einem Spektrum zwischen den Endpunkten exozentriert und egozentriert, und man könnte diesen Polen die entsprechenden für unser Thema wesentlichen Begriffe des Weltraums bzw. der Raumwelten zuordnen.
Im Sinne eines dualistischen Modells würde am Endpunkt des exzentrierten modernen Vektors die positivistische, von der Technik entworfene unendliche Ausdehnung des Raumes stehen, während die Gegenbewegung dazu eine egozentrische Konzentration auf den Körper bedeutet. Die Kunst übernimmt dabei die Rolle des Regulativs und schafft visionäre Gegenwelten, die, an den Peripherien entwickelt, kritisch aufklärend Räume verkleinern. Es muss der Kunst heute insofern eine regulative Funktion zugesprochen werden, als sie der schnellen Perzeption des Blickes andere, die Geschwindigkeit verlangsamende umfassendere Wahrnehmungsmöglichkeiten aufmacht. Sie hinterfrägt die Visualität und ergänzt den dabei entstehenden diversifizierten Wahrnehmungsraum um Angebote alternativer Perzeptionsmöglichkeiten. Die Kunst arbeitet an einer Strategie, die das traditionelle dualistische Wahrnehmungsmodell durch ein ganzheitliches ersetzen kann.

Wie eingangs erwähnt schreibt Foucault vom 20. Jahrhundert als jenem des Raumes, und Virilio erforscht die Zusammenhänge von Raum und Geschwindigkeit, ein Prozess, der über das Thema des Zeitablaufs des 19. Jahrhunderts im Sinne einer Bewusstwerdung und Fixierung historischer Abläufe in Dimensionen gegenwärtigen Erfahrens und deren Echtzeitanalyse hinausgeht. Diese Thematisierung und eine generelle Sensibilisierung von Raumerfahrungen verweisen auf eine Krise, der unser Sein im Raum zunehmend gerade auch aufgrund der oben skizzierten Entwicklungen unterworfen zu sein scheint. Elisabeth von Samsonow wirft den erkenntnistheoretischen Zusammenhang von Krise und Erkenntnis auf, ja man könnte die Moderne und wahrscheinlich noch mehr die Nachmoderne als permanenten krisenhaften Zustand charakterisieren. Die uns zur Verfügung stehenden Bilder und Raumkonzepte scheinen mit den immens ausgeweiteten Möglichkeiten des Menschen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts nicht mehr übereinzustimmen.
Mit der Emanzipation der Kunst zum potentiell nicht mehr funktionalisierten antimimetischen Gestaltungselement hat sich die Bedeutung des räumlichen Parameters wesentlich von seiner bisher zugeordneten Wertung entfernt. Genau auf diese Entwicklung, die zu Beginn der Moderne in der Kunst einsetzt, bezieht sich die Äußerung des russischen Denkers Pavel Florenskijs, wenn er um 1920 in seinem Hauptwerk Raum und Zeit schreibt: „Der Raum im künstlerischen Schaffen mag auf den ersten Blick den Eindruck erwecken ein Gegenstand nur speziellen Interesses zu sein. Ein Gegenstand, der jedenfalls nicht unabdingbar erscheint.“
Damit konstatiert Florenskij den Ausgangspunkt seiner Thesen, die auf den Paradigmenwechsel zum Räumlichen im Allgemeinen und im Besonderen in der Kunst verweisen und formuliert in der Folge sein grundsätzliches Kredo: „Nur über die Einsicht in seine räumliche Organisation findet man den Zugang zum Kunstwerk“. Nachdem er massive Kritik am Illusionismus der Zentralperspektive übt, schreibt er der Kunst folgende Zielgerichtetheit zu: „Das Ziel der Kunst ist es, den sinnlichen Schein, die naturalistische Kruste des Zufälligen zu überwinden und das Beständige und Unveränderliche, das allgemein Wertvolle und Bedeutende in der Wirklichkeit sichtbar zu machen. Anders ausgedrückt: das Ziel des Künstlers ist die Umgestaltung der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit jedoch ist nur eine bestimmte Organisation des Raums; und folglich ist es die Aufgabe der Kunst, den Raum umzuorganisieren, d.h. ihn auf eine neue Weise zu organisieren, ihn auf ihre eigene Weise einzurichten.“
Die Soziologin Martina Löw definiert Raum als „soziales Phänomen“, das im Prinzip nur aus der gesellschaftlichen Entwicklung heraus verstanden und begriffen werden kann. Dies bedeutet vor allem aber auch, dass dem Raum als Produkt eines gesellschaftlichen Prozesses eine eminent performative Komponente eignet.
Laut Löw, die in erster Linie an einer Soziologie des Raumes arbeitet, konstituiert sich dieser als „Synthese von sozialen Gütern, anderen Menschen und Orten in Vorstellungen, durch Wahrnehmung und Erinnerungen, aber auch im Spacing durch Plazierung jener Güter und Menschen an Orten in Relation zu anderen Gütern und Menschen.“ Mit Spacing und Synthese werden in diesem Zusammenhang zwei neue, grundlegende Begriffswerkzeuge für Untersuchungen in Bezug auf die Entstehung und Wirkung räumlicher Strukturen eingeführt. Grundsätzlich konstatiert Löw vor allem in den letzten 20 Jahren eine Entwicklung, welche die gesellschaftlichen Wissens- und Erfahrungsvorräte mit Raum in die Krise geführt hätten. Zu den Gründen dieser Entwicklung zählt sie unter anderem die Einführung neuer Informations- und Freizeittechnologien sowie die massenhafte Nutzung schneller Transporttechnologien.
Tatsächlich gehe ich davon aus, dass diese Krise bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt hat und letztlich zunehmend zum zentralen Thema der modernen Kunst wurde. Erst durch einen ansteigend dominanten Prozess, bei dem sich der Raum, verbunden durch die zeitliche Komponente, über die Perzeptionsmöglichkeiten gestülpt und die menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten herausgefordert hat, können wir wie Florenskij eine Krise des illusionistischen Bildes, das auf der Basis der euklidischen Geometrie entwickelt werden konnte, feststellen. Dem stellt der russische Denker ein kritisches Raumbewusstsein entgegen, welches dazu geeignet ist, die Zentralperspektive und das ihr zugrunde liegende euklidische System endgültig zu überwinden.
In den Worten Florenskijs klingt noch eine revolutionäre Grundstimmung durch, die seine Theorien gerade in Zusammenhang mit den sozialen und politischen Umwälzungen in Russland in Verbindung bringen und bis heute repräsentativ für die Konzepte der Avantgarden der Moderne sind. Schon alleine in seiner autobiographischen Position verkörpert Florenskij jenen universalen, interdisziplinären Denkansatz, der den Grundsätzlichen Forderungen, den die künstlerischen Avantgarden der Moderne erheben, Folge leistet. Dieser avantgardistische Selbstanspruch der Kunst, Realität nicht nur zweidimensional repräsentativ sondern grundlegend und prozessual zu gestalten, spiegelt sich in seiner biographischen Synthese als Denker, Mystiker und Naturwissenschaftler wieder.
Mit welchem Grad an Bedeutung Florenskij mit seinem um 1920 entstandenen Text „Raum und Zeit“ entscheidend zur Wirkungsgeschichte der modernen Avantgarden in der Kunst beigetragen hat, wird erst jetzt zunehmend deutlich.
Dieser Umstand ist eine bereichernde Folge, des sich auf den intellektuellen Austausch durchschlagenden Effekt, der Aufhebung der ideologischen Trennung Zentraleuropas vom Osteuropäischen Kulturraum.
In seinen Aufsätzen hat sich Florenskij besonders gegen die seit der Renaissance in der westlichen Wahrnehmung und im Denken vorherrschende Zentralperspektive ausgesprochen.
Er argumentiert, daß diese den Betrachter zum passiven Konsumenten eines äußeren, repräsentativen Scheins in der Kunst reduziert und ihn auf eine eingeschränkte Perzeption, die den tatsächlichen Wahrnehmungstalenten des Menschen nicht entspräche, beschränkt. Laut Florenskij werde, dem gegenüber, das Sehen durch die Aktivität des Betrachters, den Bewegungen im Raum und durch die Synthese von räumlichen Eindrücken und den sich im Raum bewegenden Körpern, im Raum geprägt.
Er wendet sich radikal gegen das cartesianisch-kantisch-euklidische Weltbild welches das Ich zum distanzierten beobachtenden, prinzipiell passiven Subjekt erzogen hätte. Seine Theorie bietet demgegenüber eine angemessene Möglichkeit, die Bedeutung von empirischemErfahren von Wirklichkeit als für die Kunst der Moderne entscheidende Komponente zu beschreiben und er wendet sich entschieden gegen die westlichem Denken zugrundeliegende antinomische Sicht einer reinen Kunst, die durch andere machtorientierte Systeme instrumentalisiert wird.
Nachdem ich mich vom Standpunkt der Kunsthistorikerin aus mit möglichen neuen Leitlinien beschäftige, die dazu geeignet sind, die performativen Entwicklungen in der Kunst der Moderne stärker gegenüber einer statischen Sicht auf das Primat des Kunstobjekts zu betonen, bietet sich gerade in diesen Ideen Florenskijs für mich eine historische Grundlage an von der aus der Versuch einer Neubewertung von Kategorien unternommen werden kann. Eine solche Interpretation würde sich weniger an äußeren Formen wie Material, Werkzeug, Stil und Zeitmoden orientieren als vielmehr an grundlegenden Strukturen die sich prozessual in Raum und Zeit entfalten. Sie würde mehr als zuvor die Kunst als gleichberechtigten Faktor neben Wissenschaft, Philosophie und Religion positionieren, ihr eine aktiv gestaltende Funktion im Umgang mit Wirklichkeit zuweisen und damit dem zentralen Imperativ der Modern bzw. der Avantgarden Rechnung tragen.
Man kann also feststellen, dass eine Krise des Bildes kausal und zeitlich parallel mit einer krisenhaften Entwicklung des Raumgefühls verbunden ist. Damit wird der Raum zum entscheidenden Thema der Moderne und die Auseinandersetzung mit ihm vor allem in der künstlerischen Avantgarde zur Obsession.
Spätestens seit Duchamp und Malewitsch setzt in der bildenden Kunst eine Entwicklung ein, die über Zwischenstadien und Ausformungen in den Neoavantgarden der 1960er-Jahre endgültig einen Hauptstrang der Kunst in den faktischen bzw. konzeptuellen Raum entwickelt hat. Bedenkt man den heutigen Stellenwert einer Kunstform wie beispielsweise der Rauminstallation, ist zweifellos nachzuvollziehen, warum Anthony Vidler in seinem Buch Warped Space den Raum als wichtigstes Paradigma der Moderne bezeichnet hat. Doch die Rauminstallation ist bei weitem nur eine mögliche Variante in der Vielzahl von Positionen, welche die Kunst unter dem Paradigma Raum entwickelt hat. Noch wesentlicher als der Raum selbst ist das Momentum des Prozesses bzw. überhaupt das Element der Performanz in der Kunst.
Denn wie bereits erwähnt von Löw definiert, gilt die Regel, dass sich Raum ja erst durch Spacing und Synthese, also einem aktiven Prozess, konstituiert. Bei diesem Prozesshaften in der Kunst, bei der Performanz, die ja nur in der Synthese von Raum und Zeit entstehen kann, hakt Lawrence Grossbergs Kritik an der heutigen Obsession mit dem Thema Raum ein, die allzu schnell in eine zu isolierte Sicht, im Sinne dessen, was Löw den „absoluten Raum“ nennt, bzw. in die relativistisch gedachten rhizomatischen Raumkonzepte von Deleuze/Guattari, umschlägt. Dem setzt Grossberg das Argument entgegen, dass Raum in geschichtsphilosophischen Entwürfen immer als ein von der Kategorie der Zeit abhängiges Element gesehen wurde, und er besteht darauf, dass eine aktive, bewusst engagierte und damit auch politische Konzeption von Raum und Zeit notwendig ist.
Löw bietet in ihrer Raumsoziologie zwei Varianten von Raumvorstellung an. Einmal eine so genannte Absolutistische, das heißt eine Vorstellung vom Raum als Behälter von Dingen und Menschen. Hier wird der Raum quasi statisch, als eigene Realität und nicht als Folge menschlichen Handelns, definiert. Raum wird dabei als Synonym für Erdboden, Territorium oder Ort verwendet. Unter die Bezeichnung „absolutistisch“ fallen deshalb auch Raumbegriffe, welche die euklidische Geometrie als einziges Bezugsystem der Konstitution von Raum annehmen und gegen die Florenskij und die gesamte moderne Avantgarde bis heute revoltieren.
Dahingegen schlägt Löw aus der Position einer zeitgemäßen Soziologie, als Abgrenzung dazu, einen prozessualen Raumbegriff vor und verbindet diesen mit der Hoffnung, „daß nur wenn nicht länger zwei verschiedene Realitäten – auf der einen Seite der Raum, auf der anderen die sozialen Güter, Menschen und ihr Handeln – unterstellt werden, sondern statt dessen Raum aus der Struktur der Menschen und sozialen Güter heraus abgeleitet wird, die Veränderungen der Raumphänomene erfaßt werden“ können.
Diese Betonung der Konstituierung von Raum in Verbindung mit der Platzierung von Körpern und Objekten, ein aktivistischer Prozess, für den ich den Begriff „Gestus“ vorschlage, bildet ein Denkmodell, das exakt auch auf die Entwicklungen im Bereich der künstlerischen Avantgarden von Duchamp bis heute anwendbar ist und gleichzeitig die Basis für jenen Prozess bildet, den man als performative turn bezeichnen kann. Performanz in der Kunst liegt also in der Wechselbeziehung zwischen Gestus und Objekt/Körper und konstituiert dabei eine mehrdimensionale Matrix. Meine These ist, dass deren Strukturen und Kategorien geeignet sind, einen methodologischen Ansatzpunkt zu bilden.
Wenn also die Kulturwissenschaften bzw. die Kunstgeschichte über konkrete methodologische Möglichkeiten nachdenken, mittels derer die Entwicklungen in der Kunst der Moderne und der Gegenwart beschreibbar gemacht werden können, ist letztlich nur bei den Strukturen und Kategorien dieser räumlichen Matrix vor dem Hintergrund ihres sicherlich diskursiven Entstehens aus dem Prozess der Platzierung und Synthese anzusetzen.
Entscheidend folgt aus dieser Definition eines prozessualen bzw. performativen Raumes, dass dieser niemals vom menschlichen Körper abgekoppelt gedacht und gesehen werden kann. Die Gesetze des Raumes bzw., wie Dietmar Kamper formuliert, „die fundamentalen Gesetze der Raumorientierung sind zuallererst im Körper selbst angelegt“. Hier erhebt sich nun die Frage, ob die ausgerufene Krise des Raumes nicht primär auf eine Krise des Körpers zurückgeführt werden muss.
In der Tat fordern die technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen der Moderne zuallererst eine Anpassungsarbeit des Körpers in Form seiner Perzeptionsmechanismen. Vor allem die spektakulären Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie, Medizin und Robotik provozieren eine vertiefte Adaptionsproblematik des menschlichen Selbstbewusstseins und seiner Identitätsuche in einem letztlich von ihm selbst aktivistisch gestalteten Umfeld.
Allerdings scheint mir Kampers Ausgangsthese einer existierenden Dynamik, eines „Umzug ins Offene“, einigermaßen idealistisch-utopisch zu sein. Immerhin zeichnet er für den Ablauf eines Menschenlebens folgenden Prozess einer linearen Entwicklungsbewegung „von der (Bauch) Höhle über die Wiege, das Zimmer, das Haus, den Hof, den Marktplatz, die Stadt, das Land, das Meer, den Globus bis zum Weltraum und so weiter“ vor. Diese Bewegung repräsentiere gleichzeitig auch eine generell vorherrschende Struktur „vom Kleinen ins Große, aus der Nähe in die Ferne, vom Körperlich-Materiellen zum Abstrakt-Geistigen, von der Tiefe des Raumes auf die Bildfläche, vom Geborenwerden, das abhängig ist, zur Autonomie, die alles selber machen will, von der Determination zur autopoetischen Konstruktion, von der rhythmischen Zeit zur absoluten Beschleunigung“.
Liest man Kampers allzu abstrakte und geradezu hierarchisch wertende Auflistung von Entwicklungsschüben in Bezug auf Raum kommt man allerdings mit Maresch und Werber nicht umhin, diese euphorische Sicht als „ungeahnte“, „höchst unerwartete, ja erschreckende Renaissance“ des Raumes zu werten.
Angesichts eindrücklicher Phänomene wie die nach einem Terrorangriff einstürzenden Türme des World Trade Centers in New York äußern Maresch und Werber indirekt Kritik an der abstrakt-idealistischen Abgehobenheit nachmoderner Theorien, wie sie in den Begriffen Rhizom, Netzwerk, Globalisierung oder „Atopia“ festgeschrieben sind. Unter dem Eindruck des weltweit deterritorialen Terrorismus stellen sie fest, dass „Deleuze und Guattari bisher ziemlich vergeblich erklärt hätten, daß ihre so beliebten Unterscheidungen zwischen Staatsapparat und nomadischen Organisationen, Struktur und Rhizom oder Territorialisierung und Deterritorialisierung relativistisch weder Gutes noch Schlechtes, sondern Besonderheiten seien“. Maresch und Werber führen die Tatsache, dass von einer „Krise des Raumes“ gesprochen wird und der Raum also als neues Problemfeld und Forschungsgebiet von Wissenschaft, Philosophie und Kunst derzeit wieder entdeckt wird, unter anderem auf einen „gravierenden Wahrnehmungswandel und Bedeutungsumschwung“ zurück.
Als einen der Gründe dafür bezeichnen sie die Tatsache eines Zusammenbruchs der bipolar organisierten Weltordnung durch die Auflösung der Sowjetunion. Diese Auflösung hat ein „neues Bewusstsein für Orte und Plätze, für die Weiten und Tiefen von Räumen sowie für die Geschichte und Besonderheiten schon vergessener Landschaften und Regionen geweckt“. Ein weiterer Grund für die Umwertung des Blickes seien die Sorgen und Ängste, hervorgerufen durch die so genannte „Bevölkerungsbombe“ mit ihren soziokulturellen Folgen wie „Vertreibung, Landflucht, Migration und Exklusion, Fremdenhass und Verinselung“ . „Konkurrenz- und Differenzierungsdruck, den globale Verflechtungen und Digitalisierung auf Kulturen, Nationen und Gemeinschaften ausüben“ , sei eine weitere Motivation, die heute zu einem notwendigerweise gesteigerten Bewusstsein für Raumthemen geführt habe.
Als „erschreckend“ kann die Dominanz des Räumlichen deshalb bezeichnet werden, weil diese Entwicklung eine Bestätigung jener Prognosen sein könnte, die der modernen Welt im Rahmen der Globalisierungsdynamik zunehmend Kriege zwischen und innerhalb der Kulturen voraussagen. Vor allem seit dem 11. September 2001 ist immer mehr vom „Clash of Civilizations“ die Rede.
Den relativistischen Euphorien der postmodernen Vernetzungs- und Globalisierungsvertreter werden soziolkulturelle und politische Alltagsfakten wie das Festhalten an Nationalismen, Essentialismen, Traditionalismen und Mythenbildungen entgegengesetzt. Maresch und Werber kritisieren das eher verschwommene Umgehen mit verschiedenen sich im Diskurs ausbildenden Benennungen von Raum. Wann immer in „zahlreichen Komposita vom ,sozialen Raum‘, ,virtuellen Raum‘, ,ästhetischen Raum‘ oder ,politischen Raum‘, vom ,Erlebnisraum‘, ,Erfahrungsraum‘, ,Verdichtungsraum‘ oder ,Gestaltungsraum‘ die Rede war, bleiben Rückschlüsse auf den Gegenstand selbst selten, so dass der Raum als theoretisch reflektierter Terminus jahrzehntelang ein kümmerliches Dasein fristete.“
Wenn dies für den Diskurs sowohl im Bereich der Philosophie wie der Kulturwissenschaften auch stimmen mag, so steht doch, wie ich anhand des theoretischen Ansatzes von Florenskij und einer ihm nachfolgenden extensiven Genealogie des Themas Raum in der Kritik und einer in diesem Sinne umzuschreibenden Kunstgeschichte skizziert habe, das Raumthema vor allem unter dem Aspekt seiner Performanz im Zentrum der Kunst der Moderne. Auch wenn geschichtsphilosophische und kulturpolitische Perspektiven nicht unmittelbar mit künstlerischen Raumkonzeptionen gleichgesetzt werden können, werden inzwischen doch in der avantgardistischen und zeitgenössischen Moderne nicht nur modellhaft Raumkategorien entwickelt, erprobt und umstrukturiert und in der Folge wie in einer Laborsituation praktisch angewandt. Denn die Kunst hat im Lauf ihrer avantgardistischen Verschränkung in direkte Gestaltungsmodelle durchaus den Anspruch erhoben, mit den von ihr entwickelten perzeptiven Zugriffen auf Raum wirklichkeitsgestaltend bzw. wirklichkeitsverändernd und damit nicht systemimmanent, sondern agitativ-analytisch zu wirken. Darüber hinaus hat das System Kunst bereits früh und direkt die Offenheit entwickelt, Raum nicht nur in einem buchstäblichen oder physischen Sinn zu verstehen, sondern vor allem seine vieldimensionalen, von Prozess, Kommunikation, Aktion und, wie Löw es letztlich für die Soziologie definiert hat, durch Platzierung und Spacing bestimmte Eigenschaften zu vermitteln und damit gestaltend zu arbeiten. Im von der Moderne und den Neoavantgarden aufgemachten Raum verbinden sich Sprache, Medium, Gestus, Körper, Bewegung, Visualität zu diskursiven Topographien, die vor allem durch ihre aktivistische Charakteristik emanzipative Handlungsperspektiven setzen.
Wenn die Kulturwissenschaften heute grundsätzlich von einer Krise des Raumes sprechen, so möchte ich für die Kunstwissenschaften hier insofern widersprechen, als für die Kunst dieser offene Zustand weniger als Krise denn als eminente Chance gesehen werden kann. Erst die Erschließung des Raumes, die von der Avantgarde bis heute geforderte und erkämpfte Erweiterung der Gestaltungs- und Diskursmöglichkeiten über die Repräsentanz, das Symbol, den Text, die Fläche, den Körper und damit das unmittelbare Subjekt hinaus, haben der Kunst jenen umfassenden Stellenwert gegeben, der ihr heute in der Gestaltung einer Lebensrealität zukommt und ihren diskursiven Regulativen wie den Kulturwissenschaften und vor allem der Kunstgeschichte grundlegende Herausforderungen und damit einen intensiven und produktiven Austausch bereitet.

Die Dynamik dieses Anspruchs, welcher der Kunst eine erweiterte Rolle zuspricht, sei sie nun modernistisch-linear oder postmodern-dezentralisiert gedacht, bringt die Entwicklung der Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in jedem Fall sowohl in den Kontext einer kontinuierlichen und intensiven Institutionskritik als auch in einen Prozess der notwendigen, ununterbrochenen Selbstbestimmung und eigenbezogenen Strukturanalyse. Über den Prozess des Nachdenkens und Manifestierens erweiterter Räume im Kunstwerk findet die Kunst selbst, als Gestus, ebenfalls zu einem für sich ideell definierten Freiraum und fordert eine Selbständigkeit ein, die ihr bis dato nicht zugewiesen wurde. Erst aus dieser Position der avantgardistischen Autonomie sieht sie sich in der Lage, zunehmend konkrete Gestaltungsansprüche zu formulieren. Es geht nicht mehr um eine absolute und schon gar nicht um eine repräsentative Kunst, sondern in erster Linie um die Position einer Selbstbestimmtheit, innerhalb derer sich die Kunst entfalten und in kommunikative Interaktion treten kann.
Demnach ist die performative Wende mit einer grundsätzlichen Politisierung der Kunst verbunden – nicht im Sinne von Ideologien, sondern als Prozess einer direkten Funktionszuweisung. Der amerikanische Neoavantgardist Robert Smithson hat diesen paradigmatischen Schritt folgendermaßen formuliert:
„Die Entwicklung der Kunst sollte nicht metaphysisch, sondern dialektisch sein.“
Die tatsächliche Radikalität seiner Position wird allerdings zur Gänze erst in der danach erhobenen Forderung sichtbar, wenn er schreibt:
„Die Dialektik, die ich meine, sucht eine Welt außerhalb des kulturellen Gefängnisses. Ich habe auch kein Interesse an Kunst, die einen ,Prozess‘ innerhalb der metaphysischen Grenzen des neutralen Raums suggeriert. In einer solchen behavioristischen Spielerei ist keine Freiheit.“
Die von Smithson hier angesprochene Institutionskritik, die sich natürlich nicht nur an die Museen gerichtet ist, sondern die Rolle und Funktion der Kunst in der westlich-aufgeklärten Gesellschaft generell in Frage stellt, kann grundsätzlich als ein der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eigener, großer gemeinsamer Nenner bezeichnet werden. Er fordert soziale und politische Interaktion, eine Aufhebung des distanzierten Blicks zugunsten echter
Erlebnisfähigkeit, eine Politik der direkten, dualistischen und erweiterten Wahrnehmung.
Smithson veröffentlichte seinen manifestiven Text anlässlich der Ablehnung seiner Teilnahme an der von Harald Szeemann 1972 kuratierten Documenta V. Bei dieser Ausstellung wurden auf einem ersten Höhepunkt des Disputs um die Postmoderne und den von ihr postulierten „Todes der Avantgarde“ die verschiedenen Positionen der Neoavantgarden komprimiert dargestellt. Smithson nützte seine Einladung zu einem manifestiven Akt der Negation – einer Geste, die von Rauschenbergs „White Paintings“ über Naumans „A Cast of the Space under My Chair“ und Brus’ „Zerreissprobe“ bis zum „Haus für Schweine und Menschen“, das Carsten Höller und Rosemarie Trockels auf der Documenta X zeigten, einen zentralen Nervenstrang der Neoavantgarden repräsentiert. In diesem für die Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zentralen Text, den Smithson mit „Kulturelle Gefängnisse“ betitelte, argumentiert der Künstler gegen die „Apparate“, welche die Macht der Kunst limitieren. Er reanimiert damit ein Thema, das vor allem in den letzten drei Jahrzehnten, die von einer erstaunlichen Konjunktur des Kunstsystems und damit auch des Museumswesens geprägt waren, die Kunst in vielfältigen Ausformungen kennzeichnet:
„Die Künstler werden in verlogene Katagorien gezwängt. Manche Künstler glauben, sie könnten diesen Apparat beherrschen, während tatsächlich der Apparat sie beherrscht. So unterstützen sie letztlich ein kulturelles Gefängnis, über das andere bestimmen. Nicht die Künstler selbst sind eingesperrt, sondern ihre Arbeiten. Museen haben Säle und Zellen, nicht anders als Irrenhäuser und Gefängnisse – nämlich neutrale ,Ausstellungsräume‘.
Die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte legen eine Sicht auf die Dinge ohnehin in dem Sinn nahe, als die Kunst selbst sich längst dualistisch über dominante Strukturen ihrer Musealisierung hinweggesetzt hat und alternative Strukturen ausbildet. Diese Dynamik setzt die Museen und Vermittlungsinstitutionen starken Veränderungszwängen aus. Sie finden sich in einer Umdenk- und Umgestaltungsphase mit dem Ziel, sich den rapiden Bewegungs- und Beschleunigungsparametern, welche die Kunst heute bestimmen, anzupassen. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt auch das Resultat einer paradigmatischen Verschiebung, innerhalb derer die performativen Parameter der Kunstentwicklung des 20. Jahrhunderts wieder ins Zentrum gegenwärtig gültiger Kunstbegriffe rücken.

Davon ausgehend und im Sinne der Möglichkeit und Aktualität eines integrativen Geschichtsmodells muss die Kunstgeschichte ihre Blickkultur auf die Objekte relativieren und
mehr Gewicht auf die Bedingungen der räumlichen Matrix legen. Dabei sind vor allem einmal verschiedene Möglichkeiten zu untersuchen, wie räumliche Parameter überhaupt gelesen werden können und das unter der Prämisse, dass sich Raum durch die umfassend stattfindende Performatisierung nicht mehr als statisches Konstrukt, sondern performativ im Sinne geographischer oder – wie es bei Christine Buci-Glucksmann heißt – karthographischer Strukturen definiert.
In der Erarbeitung einer kunsthistorisch methodologisch einsetzbaren Begriffsfindung orientiere ich mich dabei an der Position des amerikanischen Kunst- und Architekturhistorikers Anthony Vidler. Ich gehe mit seiner Annahme konform, dass es vor allem in den 1950er- und 1960er- Jahren in Bezug auf den „uneingeschränkten und ungehinderten Modernismus“ zu einer Gegenbewegung kam, die „zu einer Konzentration auf partikularere Formen des Raumes, zur Entstehung von Gegenüberstellungen von ,Ort‘ als Gegensatz zu ,Raum‘ in Architektur und Kunst und Theorie“ geführt hat. Diese von Vidler hier konstatierte Entwicklung ist ein Prozess, im Zuge dessen sich die Konzentration nicht mehr ausschließlich auf eine unendliche Erweiterung abstrakter Räume beschränkt, sondern Dimensionen besonderer Orte, der Ort der Kultur generell und die Betonung individueller Kulturen in individualistischen Räumen eine, wie Vidler formuliert, „anthropologische Sicht räumlicher Differenzierung“ entstehen ließen. Er kennzeichnet in komprimierter Form, was ich als performative Wende bezeichne.
Performanz ist in diesem die bildende Kunst betreffenden Kontext das, was Martina Löw in ihrer soziologischen Analyse von Raumkonstitution als den Prozess des Spacing bezeichnet.
Differenzierungen von Ort und Raum
Für den Versuch, eines skizzenhaften Entwurfes der einer auf den Raum konzipierten Kunstgeschichte ist die Unterscheidung zwischen Ort und Raum grundlegend.
Löw bietet in ihrer Raumsoziologie für Orte folgende Definition an:
„Ein Ort bezeichnet einen Platz, eine Stelle, konkret benennbar, meist geographisch markiert oder, wie es Jörg Brauns ausdrückt, im Ort ist ,das Eigene, Unverwechselbare, Nichtvergleichbare aufgehoben‘. Dieses Eigene hat auch Albert Einstein vor Augen, wenn er den Ort definiert als ,ein mit einem Namen bezeichneter (kleiner) Teil der Erdoberfläche‘. Orte entstehen im Spacing, sind konkret benennbar und einzigartig. Die Benennung forciert die symbolische Wirkung von Orten.“
Gleichzeitig verweist Löw aber auch auf die Möglichkeit, Raum in Differenz zum Ort mit einer umfassenderen Bedeutung, wie wir gehörte haben durchaus auch im Sinne von Atmosphären zu konstituieren. Ich wiederhole: Bei soziologischer Relevanz definiert sie die „Konstitution von Räumen durch (strukturierte) (An)Ordnungen von sozialen Gütern und Menschen an Orten“. Performanz ist, „wenn Räume im Handeln geschaffen werden, indem Objekte und Menschen synthetisiert und relational angeordnet werden.“
Sie verweist also darauf, dass der Raum als Ganzes gesehen werden kann, es aber genauso möglich ist, dass sich Raum als per se nicht sichtbares Gebilde zeigt, das zwar durch die sozialen Güter und deren Platzierung, als ganzheitliches Konstrukt aber nicht mehr optisch greifbar, sondern nur mehr „stofflich wahrnehmbar“ ist. Löw spricht hier von der Möglichkeit, „den ein- und ausschließenden Charakter von Räumen und auch das Ende von Räumen zu spüren“.
Hier kommen wir zu einer Phänomenologie von Raum, der beispielsweise für den Bereich der raumbezogenen Kunst oder auch im Bereich der Rauminstallationen von wesentlicher Bedeutung ist. (Sowohl Martin Heidegger als auch die Theorie des deutschen Phänomenologen Hermann Schmitz) Wir sprechen davon, dass Räume für den Menschen intuitiv gestimmt sind. Aus dieser Tatsache leitet Löw ihre Definition vom atmospärischen Raum ab:
„Wenn eine Fußgängerunterführung angsterregend, ein Arbeitszimmer nüchtern und ein Sonnenuntergang über dem Meer romantisch wirkt, so sei dies auf dessen Gestimmtheit zurückzuführen. Nun könnte man annehmen, daß Gestimmtheit nicht mehr ist als die Projektion von Gefühlen auf die umgebenden Räume, gäbe es nicht das Phänomen des „Umgestimmt-Werdens“ durch Räume. Man betritt zum Beispiel hektisch ein kleines Geschäft, um noch schnell vor Ladenschluß die nötigen Einkäufe zu tätigen, und wird durch ruhige Musik, angenehme Gerüche etc. in eine Stimmung der Gelassenheit versetzt. Räume entwickeln demnach eine eigene Potentialität, die Gefühle beeinflussen kann. Diese Potentialität der Räume werde ich im folgenden ,Atmosphäre‘ nennen.“
Für unseren Zweck ist entscheidend, dass diese von Löw hier festgehaltene Potentialität des Raumes ursächlich mit direkten Wahrnehmungsprozessen zu tun hat, die erst in ihrer gesamtheitlichen Wirkung, also über den Dualismus der optischen Wahrnehmung (Blick) hinaus, eine vollständige Perzeption des in den Raum gedehnten Kunstwerks und seine Bestandteile ermöglicht. „Atmospären sind demnach die in der Wahrnehmung realisierte Außenwirkung sozialer Güter und Menschen in ihrer räumlichen (An)Ordnung.“
Die hier nun vorgenommene Kategorisierung von raumspezifischen Möglichkeiten lässt sich gut anhand einer auf Video festgehaltenen Performance von Bruce Nauman verdeutlichen. In „Slow Angle Walk (Beckett Walk)“ aus dem Jahr 1980 bewegt sich der Künstler insgesamt genau eine Stunde lang über die Konturen eines auf dem Boden seines Ateliers markierten Quadrats. Nauman wählt für die Art der Bewegung die Form eines verfremdeten, abgezirkelten Ganges, der die Geometrie des Raumes und des am Boden markierten Quadrats aufnimmt. Dies hat zur Folge, dass die Geste des sich Vorwärtsbewegens die gewohnte Art des Gehens verfremdet. Weiters erzeugt die exzentrische Art der Bewegung durch die feststellbaren Ermüdungserscheinungen eine sich auf den Raum ausdehnende anthropomorphe und emotionale Dimension. Dieser Effekt ist auch auf dem Videotape, mit dem diese einmalig durchgeführte Performance vermittelt wird, deutlich feststellbar. Sabine Flach weist darauf hin, dass „die Energie, die durch diesen Bewegungprozess erzeugt wird, nicht mehr die eines Körper (ist), sondern zu einer Qualität des Raumes (transformiert wird).“ Nauman selbst bezeichnet diese Arbeit als performative Studie zu raumkonstituierenden Prozessen, und er verdeutlicht seinen Ansatz anhand einer von ihm gemachten Alltagsbeobachtung:
„Es ist wie eine Frau, die ich einmal in einem Restaurant sah. Sie setzte sich auf einen Stuhl, ließ ihr Feuerzeug auf den Tisch fallen, warf ihre Handtasche dazu – so daß sie alleine, mit allem, was ihr so gehörte, einen Riesenanteil des Raumes in Anspruch nahm.“
Naumans frühe performative Arbeiten sind von diesem experimentellen Gestus und seinem Interesse an grundlegenden Strukturen gekennzeichnet. In seinem Frühwerk verbindet sich ein Kunstbegriff, der nach wie vor mit dem Begriff „Primary Structures“ sehr gut charakterisiert ist, mit den Selbsterfahrungstendenzen, die sich aus der umfassenden Analyse und Dekonstruktion von repräsentativen Positionen in der Kunst – sei es im Bereich der Bildkunst oder der skulpturalen Kunst – gebildet haben. Alle in der Isolation des Studios realisierten Experimente,(beispielsweise „Bouncing Two Balls between the Floor and the Ceiling with Changing Rhythms (1968), „Walking in an Exaggerated Manner around the Perimeter of a Square“ (1968), „Stamping in the Studio“ (1968) oder „Wall-Floor Positions“ (1968))die durch Film- bzw. Videodokumentationen erhalten sind, handeln von Prozessen der Subjektkonstituierung in der Auseinandersetzung mit Raumdimensionen und demonstrieren exakt jenes performative Element des „Placing“, das als grundlegend für die Herstellung von Räumen bezeichnet werden kann.
Die ins Zentrum der Kunsterfahrung rückende Subjekt-Raum-Konstituierung ist anhand der minimalistisch verknappten performativen Konstrukte Naumanns besonders deutlich zu demonstrieren und nimmt innerhalb der Entwicklung nach der performativen Wende eine für das Thema besonders repräsentative Position ein. Bemerkenswert dabei ist, dass es Nauman innerhalb der Entwicklung seines Gesamtwerks gelungen ist, Strukturen des Minimalismus zu durchbrechen und mit subjektiven, ja teilweise narrativen Inhalten aufzuladen. Damit steht sein Werk als Synthese über den transkontinentalen Diskursen zwischen Postmoderne und der Kontinuität modernistischer Genealogien bzw. Konzepten von indifferenter und immanenter Ästhetik.
Seit der performativen Wende der frühen 1960er-Jahre haben sich viele individuelle Variationen der Subjekt-Raum-Konstituierung ausgeformt und eine Kunstgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert ist deshalb gefordert, hier eine alternative Struktur zu den auf oberflächlich-journalistische Weise mit Schlagwortfunktion versehenen Kategorisierungen zu entwickeln.
Dabei muss vor allem betont werden, dass aufgrund der primären Strukturentwicklung nicht mehr das Objekt im Zentrum der Analyse steht, sondern das relationale Verhältnis von Raum und Subjekt, dessen Performanz sich allenfalls über das Objekt repräsentiert und daran abzulesen ist. Die Gewichtung liegt daher klar auf einem Prozess, der weit über das Kunstobjekt hinausführt und das Kunstwerk nicht mehr über das Objekt definiert, sondern an den hinter den Objekten stehenden performativen Gesten festmacht.
Nachdem die Kunst heute mehr denn je in souveräner Weise gesellschaftlich interagiert, befindet sie sich auch direkt in politischen Diskursen und versucht, aktiv und emanzipativ in gesellschaftliche Gestaltungsprozesse einzugreifen. Umfassend drückt sich dieser Ansatz vor allem in ihrer Kontextualisierung mit Architektur, Städteplanung und ökologischen Modellen aus. Gleichzeitig beharrt sie aber auch im Sinne ihrer literalistischen Ansatzpunkte innerhalb der Neoavantgarden auf der Möglichkeit, alternative Räume zu besetzen oder auf ihrem Recht auf Entwurf und Errichtung exterritorialer Räume, in denen sie gleichsam unter Laborbedingungen autonome Erfahrungsmodelle erproben kann.
Beide Modelle – sowohl das Eingreifen in den sozial-kommunikativen Raum über Medien oder in Form eines direkten Aktionismus als auch das Schaffen von subjektivistischen Freiräumen – sind wesentliche Eckpunkte im Ausdehnungsprozess der Kunst in den performativen Raum.



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