firma raumforschung

    Vortrag: "Imaginäre Reisen" von Christian Mayer
gehalten am 22.11.2004 bei firma raumforschung/theatercombinat

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bestanden enge Verbindungen zwischen Naturforschern und Landschaftsmalern. Die neuen Entdeckungen der empirischen Wissenschaften stellten das Verhältnis der Menschen zur Natur auf eine vollkommen neue Grundlage. Die Folgen für die künstlerische Behandlung von Landschaft waren erheblich. Die Vertiefung in die Natur, in ihr gesamtes Gefüge wie ins Detail, brachte eine sprunghafte Erweiterung von Landschaftsaspekten mit sich. Aber auch der Blick auf die Natur wurde verändert. Der Künstler verband die Unmittelbarkeit der Naturbeobachtung nun mit dem neuen Wissen um die natürlichen Zusammenhänge und ihre Entwicklungsgeschichte. Naturwissenschaft und Kunst vereinigen sich hier in dem gemeinsamen Ziel, den Raum der Welt zu erkunden und die Geheimnisse, die zur Entstehung dieses Raums geführt hatten, zu ergründen. Der Raum wird zu einem Objekt dessen Abbild nun wissenschaftlichen Nutzen geniesst und damit eine neue Relevanz erfährt.
Die Landschaftsmalerei legte auf die genaue Wiedergabe von geologischen Strukturen, von Gebirgsformen und unterschiedlichen Gesteinsarten wie Granit oder Basalt immer größeres Gewicht. Dabei knüpfte man an zeitgenössische Diskurse wie die Vulkanisten-Neptunisten-Debatte oder die Auseinandersetzung über die Entstehung des Basalts an. Künstler wie Johan Christian Dahl, Thomas Ender u.a. rezipierten die zeitgenössischen Publikationen und legten ihren Bildern einen geologischen Blick auf die Landschaft zugrunde. Die Schweizer Caspar Wolf und Samuel Birmann entwickelten ein neues künstlerisches Vokabular, um Eis, riesige Gletscher und Bergformationen in den richtigen Proportionen wiedergeben zu können.
Die Geognosie beeinflusste als Theorie zur Geschichte der Erdentstehung auch die Künstler. Ihre Gedanken schlugen sich in Caspar David Friedrichs Gebirgsdarstellungen oder in Carl Gustav Carus’ Landschaften nieder. Carus entwarf eine Erdlebenbildkunst, in der wissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlage der Kunst bilden sollte. Ganz ähnlich waren die ästhetischen Vorstellungen Alexander von Humboldts. Er legte den Künstlern nahe, den jeweils geographisch spezifischen Charakter der Vegetation einer Landschaft zu schildern. Auch hier wurde die Genauigkeit der wissenschaftlichen Naturbeobachtung zum Leitbild des Landschaftsmalers erhoben.
Dieser wissenschaftlich objektivierte Blick der Malerei auf die Landschaft musste direkt vor Ort in der Landschaft angewendet werden und zu diesem Zwecke mussten die Künstler viel reisen. Bestimmte geographische Gegenden wurden aufgesucht um dort die geeigneten Motive zu finden die dann in Skizzen, Studien, Aquarellen und Gemälden festgehalten wurden. Diese Reisen führten zunächst in die nähere, heimatliche Umgebung, wie bei Caspar David Friedrich, dann aber auch in die Ferne, wie bei Thomas Ender der an der österreichischen Brasilien Expedition teilnahm.
Diese Expedition wurde anlässlich der Vermählung des portugiesischen Kronprinzen Pedro mit der österreichischen Prinzessin Leopoldina von deren Wissenschafts-begeisterten Vater Kaiser Franz I. aufgestellt. Infolge der napoleonischen Kriege war das portugiesische Königshaus 1807 nach Brasilien geflohen und regierte Portugal von Rio de Janeiro aus bis ins Jahr 1821. Folglich musste die junge Prinzessin per Schiff nach Rio reisen um dort ihren künftigen Ehemann zu treffen und wurde auf dieser Reise von 2 Schiffen begleitet, der Augusta und der Austria. An Bord war auch das Expeditionsteam das aus mehreren Naturwissenschaftlern, darunter Botaniker, Mediziner, Präparatoren etc.und mehreren Malern bestand. Der zu diesem Zeitpunkt erst 23 Jahre alte Landschaftsmaler Thomas Ender blieb in der Folge für zwei Jahre in Brasilien und zeichnete und malte auf dieser Reise über 800 Blätter die großteils in den Besitz des Kaisers übergingen und heute der Akademie der Bildenden Künste gehören. Ich zeige jetzt mal ein paar Bilder von ihm.
Es ist quasi ein fotografischer Blick der aus diesen Bildern spricht auch wenn die Fotografie zu der Zeit noch nicht erfunden war. Und mit dem Aufkommen der Fotografie verliert diese Art der Malerei dann auch sehr an Bedeutung, denn den Anspruch der objektiven Darstellung von Landschaft konnte diese natürlich noch besser erfüllen. Nun wurde ich vor ca. einem Jahr eingeladen mich auch für ein Expeditionsteam zu bewerben. Der Künstler Mark Dion hatte gemeinsam mit der Akademie der bildenden Künste Wien und der Bienale von Sao Paulo das Projekt "The Thomas Ender Expedition - Reconsidered" auf die Beine gestellt und war nun auf der Suche nach Künstlern die sich an dem Projekt beteiligen wollten. Die Idee war, diese Expedition von 1817 mehr oder weniger noch einmal zu machen, also nach Brasilien zu reisen und an Orte zu gehen von denen es die bildhaften Beweise gibt, dass Thomas Ender sich während seiner Expedition dort aufgehalten hat. Nur dass das Expeditionsteam diesmal ausschliesslich aus Künstlern bestehen würde und dass jeder dieser Künstler innerhalb einer Rolle, die in einer historischen Expedition von Wichtigkeit war, künstlerisch arbeiten sollte. Auch sollte das Team diesmal nicht nur aus Europäern bestehen sondern auch brasilianische Teilnehmer umfassen. Am Ende des Projekts war eine Gruppenausstellung geplant in der die auf oder nach der Reise gemachten Arbeiten gezeigt werden sollten.
Ziel des Projekts war es, durch das Nachspielen dieses historischen Modells einer Expedition dieses Modell aus unserem Blickwinkel noch einmal zu überdenken bzw. die Unterschiede zwischen der Reise-Wahrnehmung der Teilnehmer von damals und der unseren zu hinterfragen. Natürlich war dieses Unterfangen einigermassen absurd, da die Orte die der Ender hauptsächlich bereiste, also das Umfeld von Rio de Janeiro und Sao Paulo, heute fast komplett urban sind und wir auch alle Annehmlichkeiten der heutigen Zeit in Anspruch nahmen, also Flugzeug, Hotel, Auto etc. So brauchten wir für unsere Reise nach Rio beispielsweise 9 Stunden während der Ender 9 Monate unterwegs war. Und unsere gesamte Reisedauer von 2 Wochen stand den 2 Jahren Reisezeit von Ender gegenüber.
Ich übernahm bei dieser Expedition den Posten des Chronisten, und entschied mich dafür das Medium Video als aufzeichnendes Medium für diesen Zweck zu benutzen. Ich sah mich dabei durchaus in der Tradition eines Thomas Ender, den ich auch immer als Bildchronisten verstanden habe, auch wenn man ihn normalerweise als Landschaftsmaler tituliert. Ich fand das bei Ender auch immer dadurch bestätigt, dass er auf den Bildern aus Brasilien immer den Ort und das Datum vermerkte, also das Bild in seiner räumlichen und zeitlichen Koordinate verankerte.
Vor Antritt der Reise habe ich mich zunächst mit der Frage beschäftigt, was mein Verhältnis zum abgebildeten Raum auf dieser Reise von dem, das Ender zu seiner Zeit hatte, unterscheidet.
Im Gegensatz zu der Annahme die zu Enders' Zeit herrschte, dass der menschliche Erkenntnisprozeß in Form der Beobachtung einer objektiv festgelegten Wirklichkeit durch ein registrierendes, vernunftbegabtes Subjekt erfolgt, gehen wir heute davon aus, dass die Erkenntnis vom Modell und von der Beschreibung, innerhalb derer wir eine Beobachtung machen, abhängt. Der Begriff der "Wahrheit" bezeichnet für uns eben nicht mehr eine objektive, von der menschlichen Vernunft aufschließbare Wesensart der Dinge hinter ihrer verzerrten mannigfaltigen Erscheinungsweise, sondern eine bestimmte Weise in der Welt zu operieren. Dem Status und dem Ort des Beobachters wird dabei eine entscheidende Stelle im Prozess der Erkenntnis zugewiesen. Mein Status auf dieser Expedition war der des "Touristen" und so bestimmte ich zuerst das Verhältnis, das der Tourist heute im allgemeinen gegenüber dem Raum, den er bereist, einnimmt. Der Tourist nimmt die Welt hauptsächlich als das Bild wahr, das er davon mit nach Hause nimmt, zuletzt also aus der Perspektive des Anderen, des Betrachters, dem er seine fotografischen Trophäen zeigt. Momente, die gemerkt werden wollen, werden fotografisch oder per Video festgehalten und somit wird jede Erfahrung sofort in Erinnerung verwandelt. So erstellt sich jeder sein eigenes Bildgedächtnis das jederzeit zu Hause wieder aufgerufen werden kann. Reisen wird in dem Sinne zu einer Strategie möglichst viele Bilder zu machen, die man später zeigen kann. Ich wollte mir auf dieser Reise ganz bewußt diesen touristischen Blick aneignen und ihn auf mein Videofilmen übertragen. Was mir wichtig oder interessant genug erschien nahm ich auf, was mir unwichtig erschien oder wenn es nicht erlaubt war zu filmen, dann liess ich es bleiben. So kam ich von der 2-wöchigen Reise mit drei Stunden Videomaterial zurück.
Daraufhin habe ich dieses Videomaterial mehreren Übersetzungen unterzogen. Zuerst habe ich die Bilder schriftlich beschrieben und somit in Sprache übersetzt. Die Methode, die ich dabei anwandte, nennt sich "Audio Description" und wird normalerweise dazu verwendet, blinden Menschen visuelle Dinge zugänglich zu machen indem man sie sprachlich beschreibt. Wichtig bei dieser Methode ist, dass man so objektiv wie möglich beschreibt und sich auf die wesentlichen Merkmale beschränkt.
Ich fand es sehr interessant, dass diese Methode den objektiven Blick wieder einnimmt, der Enders' Blick auf den Realraum entspricht, hier aber auf den bereits medialisierten, abgebildeten Realraum angewandt wird und dass diese Methode es mir gleichzeitig erlaubte, den Gegenstand der Beschreibung, die Bilder, dem Blick wieder zu entziehen, indem nur die Übersetzung der Bilder in Sprache übrig blieb. Dadurch konnte ich mich der Hegemonie des Visuellen entziehen und den Rezipienten auf die je individuelle Imaginationskraft zurückwerfen. Der Raum wird als bloße Vorstellung verdeutlicht. Gleichzeitig kam ich dadurch wieder zu der Form, die klassischerweise die Form der Chronik darstellt: der Text. Dieser Text wurde von mir dann zu einem Buch gebunden, das sich "The Chronic" nennt. Wenn immer ein Schnitt in dem Videomaterial vorkam, gab ich diese Stelle im Text mit dem Timecode an, das heisst mit Stunde, Minute, Sekunde und Frame an der dieser Schnitt auf der Kassette erfolgte.
Die zweite Übersetzung funktionierte mit der gleichen Methode, diesmal aber in Form eines Videos. Eine Sprecherin beschreibt was sie sieht, während sie sich die gesamten drei Stunden Video anschaut. Der Original-Sound der Videoaufnahmen bleibt leise im Hintergrund doch die Bilder werden nicht gezeigt. Der Monitor ist schwarz bis auf einen weissen laufenden Timecode, der auch hier wieder als zeitliche Konstante auftaucht.
Der Videoraum wird hier quasi vom Realraum, den er ursprünglich abbildete, abgekoppelt und wird wie ein autonomer Raum behandelt. Alles was ausserhalb dieses Videoraums auf der Expedition passierte hat keine Relevanz mehr und wird in der Chronic dieser Expedition nicht erwähnt. Selbst die Zeit ist in diesem Raum eine eigene, die Videozeit, die sich nicht mehr in Tagen sondern in Kassetten unterteilt, und in der nicht die Sekunden die kleinste Einheit darstellen sondern die Frames, die so schnell ablaufen, dass sie als einzelner Moment nicht mehr fassbar sind. Schliesslich verdeutlicht dieses Video auch die Tatsache, dass die Übermittlung einer Realität eben nicht nach objektiven allgemein-gültigen Masstäben funktionieren kann sondern immer nur über das einzelne Subjekt denkbar ist, in diesem Fall eben über die Sprecherin, die ihre Beobachtung an uns weitergibt. Ich zeige nun einen ca. 5-minütigen Ausschnitt aus dem Video.

Ich komme jetzt noch einmal zu der ursprünglichen Expedition zurück. Das Interesse bei der Wiener Bevölkerung an dieser Expedition muss man sich riesig vorstellen. Und als die ersten Lieferungen mit präparierten Tieren, fremden Pflanzen und eben auch Bildern hier ankamen, war der Andrang unglaublich, jeder wollte das sehen. So wurde etwa extra ein Brasilien Museum eröffnet in dem diese Dokumente ausgestellt wurden. Aber auch an anderen Tatsachen lässt sich die Begeisterung, die plötzlich die ganze bürgerliche Bevölkerung infizierte, ablesen. So kamen zum Beispiel im Möbel- wie auch im Kleidungsdesign plötzlich Modelle in Mode, die an brasilianischen Vorbildern orientiert waren. Allerdings muss man auch sagen, dass diese Begeisterung nur wenige Jahre anhielt und das Brasilien Museum nach fünf Jahren wieder geschlossen werden musste wegen zu geringer Besucherzahlen. Denn das Begehren nach fremden Ländern, das damals als allgemein gesellschaftliches Phänomen auftauchte, verteilte sich auf die ganze Welt und war starken Moden unterworfen. Man war an allem interessiert und hungrig auf neues und exotisches. Die ganze Welt schien auf einmal in Reichweite. Nur dass die meisten Menschen damals nicht wirklich die Möglichkeit hatten die Welt zu bereisen. Doch mit Hilfe des Bildes gelang es, die Welt nach Hause zu holen und damit die Menschen auf imaginative Reisen zu schicken, ohne dass sie Wien verlassen mussten. Der Raum war plötzlich, durch den Versuch seiner Objektivierung, reproduzierbar geworden und der wissenschaftlich-malerische Blick lieferte durch seinen Anspruch, die Realität so exakt wie möglich zu kopieren, das geeignete Bildmittel um diese Illusion herstellen zu können. Die Apparate, die zu der Zeit erfunden wurden, und von denen ich jetzt ein paar kurz vorstellen möchte, hatten allesamt ein Ziel: die Hervorbringung einer künstlichen Wirklichkeit.
Eine dieser Erfindungen war das Panorama, das sich der Ire Robert Barker 1787 patentieren ließ. Er nannte seine Erfindung zunächst noch vielsagend "nature at a glance", also Natur auf einen Blick. Das Panorama war nichts anderes als ein illusionistisch gemaltes 360-Grad-Rundumbild, wobei sich der Betrachter in der Mitte des Raumes und in exakt der Distanz befand, die dem Eindruck der Illusion am förderlichsten war. Das Panorama war ein riessen Erfolg und stellt damit das erste optische Massenmedium dar. Die Allgemeine Theaterzeitung etwa begann einen Artikel über das 1801 als erstes Panorama in Wien ausgestellte London-Panorama mit der Überschrift: "Die Kunst ohne Kosten und bedeutende Unbequemlichkeit zu reisen". Das heisst, diese bildliche Illusion wurde als adequater Ersatz für eine tatsächliche Reise anerkannt und somit dem Bildraum eine realle Erfahrung zugesprochen, die sich mit der Erfahrung, die man in einem Real-Raum macht, messen kann.
Jaques Daguerre, der später einer der Erfinder der Fotografie werden sollte, machte 1822 die nächste Erfindung, das Diorama. Hier befanden sich die Zuschauer in einem drehbaren Raum vor zwei verschiedenen, jeweils 14 x 22 m messenden Bildern, die beidseitig bemalt waren. Wechselte die Beleuchtung langsam von Auflicht zu Durchlicht, dann meinte man, einen Handlungsablauf in der Szenerie wahrnehmen zu können. Zur räumlichen Illusion war also die zeitliche hinzugekommen. Im deutschsprachigen Raum waren vor allem auch die Kleinpanoramen beliebt, die mit optischen Linsen betrachtet wurden und die oft nur Guckkästen oder einfache Tafelbilder waren die unter Bezeichnungen wie "Zimmerreise" oder "Malerische Reise" beworben wurden. Moritz Gottlieb Saphir beschreibt 1827 eine Zimmerreise etwa mit den Worten: "In einem Zimmer sitzen und doch reisen, ist desto angenehmer, da weder Staub, noch Zoll- und Visitationswesen die Reisenden inkommodiert."
Mit der Erfindung der Fotografie schliesslich war ein neues Medium geschaffen, das wirklichkeitsgetreue Abbilder der Welt lieferte und besondere Faszination erregte die Betrachtung von Fotografien durch das Mitte des 19. Jahrhunderts von Charles Wheatstone entwickelte Stereoskop. Dabei wurden zwei knapp nebeneinander aufgenommene Fotografien durch zwei Linsen betrachtet, wodurch ein dreidimensionales Bild entstand. Hiermit verließ die bildhafte Raumillusion also auf optischem Wege den zweidimensionalen Raum und die Stereoskopie galt deshalb bald als die Vollendung der Künste. Denn das höchste, das die Kunst zu der Zeit erreichen konnte, war die räumliche Darstellung der Natur. So wurde das Kaiserpanorama, das 25 Menschen gleichzeitig die Möglichkeit bot, Stereoskopbilder, die von einem Zuschauer zum nächsten weiter bewegt wurden, zu betrachten, mit dem Satz beworben: "Durch das Kaiser-Panorama ist das Problem gelöst: Die Welt mit der Welt bekannt zu machen." Mit anderen Worten: das Problem war das Begehren eines Teils der Welt, den Rest der Welt kennen zu lernen. Und die Lösung war die bildhafte Raumillusion, die imaginative Reise. Der Kommentar eines Besuchers des Kaiser-Panoramas dazu: "Gute Stereoskopbilder also vermitteln uns den Anblick von Personen, Landschaften, Strassenszenen, Gebäuden und Schiffen in solcher Weise, dass die Illusion eine fast vollständige ist...Die allwöchentlich wechselnden Bilder-Serien des Kaiser-Panoramas führen uns in alle Teile der Welt und sind der beste Ersatz für eine Reise um die Erde."
Die weitere Übersetzung der Raumillusion in den dreidimensionalen Raum war schliesslich auf der Wiener Weltausstellung von 1873 gelungen. Auf dem Ausstellungsgelände des Prater holte man sich die Welt sprichwörtlich ins Haus. Die 200 kleineren Pavillons wurden in den für die jeweiligen Länder charakteristischen Baustilen errichtet in denen die Länder ihre gewerblichen Erzeugnisse und künstlerischen Produkte vorstellten. Ein Ausstellungsbesucher beschreibt seine Eindrücke so: "Es lebe die Ausstellung! Sie stillt das Verlangen aller nach fremden Himmelsstrichen sich sehnenden Gemüther, ihr ist es zu danken, wenn wir so schnell - fast noch schneller als auf den Zauberschwingen der Phantasie - in jene fernen Reiche gelangen, zu denen es uns immer und immer mit märchenhaft magischer Gewalt hinzieht."
An gleicher Stelle schliesslich eröffnete 1895 der Vergnügungspark "Venedig in Wien". Das von dem Wiener Theatermacher Gabor Steiner geleitete Projekt war nichts anderes als ein 5000 qm grosser Nachbau Venedigs, mit begehbaren Häusern die teilweise echten venezianischen Palazzos nachgebildet waren und einem Kanalsystem, auf dem man sich von original venezianischen Gondolieri in original venezianischen Gondeln umherschiffen lassen konnte. "Venedig in Wien" war Vergnügungspark, Theater und Shopping Mall in einem. Dieses Projekt war ein riesiger Erfolg bei der Wiener Bevölkerung die in Scharen dorthin strömten. "Komm, wir gehen heute abend nach Venedig!" soll man angeblich halb scherzhaft, halb ernst gesagt haben. Doch obwohl es im Innern ständig mit neuen Attraktionen ausgestattet wurde war auch dieses Bild nach fünf Jahren schon zu bekannt und zu beschränkt um weiterhin Erfolg zu haben und musste durch ein neues ersetzt werden. Es wurde in die "Internationale Stadt" umgebaut, die aus japanischen, ägyptischen und spanischen Straßenansichten bestand. Später dann zu einer Internationalen Jagdausstellung mit Jagdschlösschen und noch später zu einer Adria Ausstellung.
2002 hatte ich die Möglichkeit, während der "Biennale di Venezia" in einer venezianischen Wohnung eine Ausstellung mit dem Namen "Venedig in Wien in Venedig" zu machen, für die ich das Bild von Venedig in Wien finden und wieder nach Venedig zurück bringen wollte. Die Wohnung, die öfter an Gäste vermietet wurde, hatte viele Bilderrahmen an den Wänden, in denen sich Bilder von Venedig befanden. Es waren die typischen Klischeebilder die man als Tourist erwartet, Gondeln, Kanäle, etc. Ich tauschte diese durch Bilder von "Venedig in Wien" aus und hängte sie wieder an ihre ursprüngliche Stelle. Da sich diese Bilder durch so gut wie nichts als Bilder von Wien verrieten, fielen sie überhaupt nicht auf und waren als Intervention nicht erkennbar.
Im Wohnzimmer hängte ich eine große Fototapete an eine der Wände, die ein Gebäude zeigt, das ganz offensichtlich wie ein venezianisches aussieht. Gleichzeitig erkennt man hier aber recht schnell die Details, die bezeugen, dass das nicht in Venedig stehen kann. Autos vor dem Haus, was in Venedig ja völlig undenkbar ist, überhaupt Strassen statt Kanäle, und angeschnitten mehrere Häuser die an Wiener Gründerzeit-Häuser erinnern. Und tatsächlich steht dieses Haus in Wien in der Praterstrasse und trägt den Namen "Dogenhof". Warum dieses Wohnhaus, das 1896 gebaut wurde, dem Dogenpalast in Venedig nach empfunden wurde ist nicht wirklich bekannt, dürfte aber mit "Venedig in Wien" zusammen hängen, dessen Eingangsportal sich ja nur wenige Meter weiter die Praterstrasse hinunter befand. Aber es zeugt davon, wie begehrt das Bild von Venedig zu der Zeit war, so begehrt dass man es aus den Mauern des, ausgewiesener Massen inszenierten, Raums des Vergnügungsparks in den realen Stadtraum, und damit in das Wiener Stadtbild, integrieren wollte. Und heute steht dieses Haus genauso unter Denkmalschutz wie die Palazzos in Venedig.
Dieses Bild diente in der Ausstellung nun wiederum als Fotohintergrund und bezieht sich damit auf eine ebenfalls im 19.Jahrhundert sehr beliebte Form der Bildillusion die in der Portraitfotografie angewandt wurde. Man stellte sich im Studio des Fotografen vor gemalte Hintergründe die einen bestimmten Ort repräsentierten, und konnte sich nun fotografieren lassen als wäre man an einem Ort gewesen, an dem man nie wirklich war. Innen und Aussen werden hier mit Hilfe des Bildes austauschbar. In meiner Ausstellung nun konnten sich die Ausstellungsbesucher das eigene Bild von "Venedig in Wien in Venedig" mitnehmen. Ein Ort der wohl mehr in einem Dazwischen liegt, als dass er noch eindeutig verortbar wäre.
Wenn man heute durch Venedig geht, hat man das Gefühl, sich in einem Vergnügungspark zu befinden. Zu diesem Gedanken passt, dass die Stadtverwaltung tatsächlich vor einigen Jahren darüber nachdachte, Eintritt für Venedig zu verlangen. Da es weder der Moderne noch der Postmoderne erlaubt wurde, sich in Venedigs Architektur zu manifestieren, wurde Venedig selbst zu einer Kulisse von Venedig, einem "Venedig in Venedig" sozusagen, nur dass die beiden Ebenen hier zusammen fallen. Hier hat sich Geschichte in ein Bild verwandelt, das zur Kulisse wird, nur dass das Bild hier nicht nach ein paar Jahren ausgetauscht werden kann. Venedig und sein Bild sind für immer miteinander verwachsen. Dabei lassen sich die Touristen, die heute nach Venedig fahren, genauso auf eine Illusion ein, wie die Menschen die vor 100 Jahren nach "Venedig in Wien" fuhren. Nur dass hier Raum und sein reproduziertes Bild aufeinander fallen.


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