"...die wolken still/sprachlos die winde."
"vom sprechen, das nicht aus einem mund kommt."
"politics of affection and uneasiness" |
|
Nikolaus Müller-Schöll (Ruhr-Universität Bochum)
“... die Wolken still / Sprachlos die Winde”
Heiner Müllers Schweigen
vortrag gehalten am 3.06. 2004, anlässlich der hamburger premiere von "mauser" von heiner müller in der regie von claudia bosse, eine kooperation von thaetercombinat, nationaltheater montenegro, kampnagel hamburg
Hör wie das Schweigen deine Rede bricht.
Was heißt es, einen Text zu sprechen? Welche Funktion kommt dem Text, der geschriebenen Sprache, dem Sprechen im Rahmen einer theatralen Praxis zu, die sich nicht länger auf einen Metatext beruft, sondern im Wesentlichen vom Primat der Szene her begreift - die sich deshalb nicht länger oder jedenfalls nicht in erster Linie als Vorstellung oder Aufführung bezeichnet, sondern vielmehr als Tun in einer gegebenen Zeitspanne und in einem gegebenen Raum.
In dieser Fragestellung lässt sich ein Problem auf den Punkt bringen, das heute den produktiven Kern eines großen Teils der Arbeit einer ganzen Reihe von TheatermacherInnen darstellt, die mit ihrer Arbeit das Theater nicht einfach nur beliefern, sondern zugleich nach Maßgabe des Möglichen verändern wollen - ich denke hier etwa an Wanda Golonka, Jan Ritsema, Laurent Chétouane, René Pollesch oder das Wiener THEATERCOMBINAT. Anders als jene Jungdramatiker, die mit der Restauration des Dramas in seiner anglo-amerikanischen Variante in die Zeit des Nierentischs zurückflüchten und aus ihren Bühnen eine permanente 50er-Jahre-Show machen, anders auch als das berufsjugendliche Regietheater, das verzweifelt nach großen Themen sucht, die es vor der Ankunft bei den Aporien des eigenen Darstellens bewahren, stellen sie sich im Theater der Frage, was, um Heiner Müller zu zitieren - “der Grund seiner Sprache” ist , ihr Anlass, zugleich aber auch ihr Boden, das, woraus sie hervorgeht und worauf sie steht oder ruht.
Über diesen Grund schreibt Heiner Müller am Ende eines seiner wichtigsten theatrologischen und poetologischen Texte, im Brief an Mitko Gotscheff: “Wenn die Diskotheken verlassen und die Akademien verödet sind, wird das Schweigen des Theaters wieder gehört werden, das der Grund seiner Sprache ist.” (MA 70) Wie aber lässt sich sprechen, ohne diesen Grund des Schweigens zu verbergen und zu vergessen? Oder kurz: Wie lässt sich ein Schweigen hören? - Ausgehend von diesen Fragen möchte ich nachfolgend skizzieren, was Müller dem Gegenwartstheater in seiner Theorie und seinem Schreiben zum Thema des Sprechens, der Sprache und des Textes zu sagen hat: Zunächst im Durchgang durch einige theoretische Äußerungen, dann entlang einer Passage aus dem “Hamlet”, mit der Müller implizit seine Theorie des Schauspielens darstellt, schließlich mit einem Blick auf die Praxis seines Schreibens.
(1) Der “Grund der Sprache” - Müllers “Schweigen”
Was heißt “Schweigen”, was “Hören”? Heiner Müller kam auf diese Fragen immer wieder zurück, sie durchziehen als roter Faden seine Äußerungen zur Sprache und zum Schreiben. So hält er fest, dass am Anfang eines Stückentwurfs “ein Gefühl für den Raum und für die Positionen der Figuren im Raum und zueinander” auftauche. “Daraus entstehen erst allmählich Dialog oder Text; aber zuerst ist eigentlich etwas Nicht-Verbales da. Und es gibt eine Theorie, die geht davon aus, daß der Grund, das Elementarste bei der antiken Tragödie z.B. das Schweigen ist. Vor dem Wort ist immer das Schweigen, und das Schweigen ist die Voraussetzung fürs Sprechen. (...) Das Schweigen ist keine Lücke.” Auch bei Robert Wilson fällt ihm auf, dass die erste Schicht von dessen Arbeit das “Schweigen” sei, “dann kommt die Schicht des Textes darüber, das Schweigen ist also immer darunter; wenn man den Text hört, hört man noch das Schweigen, das darunterliegt, und das ergibt eine Tiefenspannung.” (GI 2, 43) Im Anschluss an sein Interesse am Tanztheater beschreibt er, dass - wie Grotowski zufolge der Schauspieler - auch das Theater “immer wieder seinen Nullpunkt finden” müsse. “Und der Nullpunkt liegt in einem vorsprachlichen Territorium.” (ebd. 43 f.) Immer wieder kommt er im selben Gespräch auf dieses Leitmotiv zurück: Indem er auf Becketts Versuch zu sprechen kommt, die Länge der Pausen im Theater festzuschreiben und sie als Reaktion darauf bezeichnet, “daß das Publikum Pausen im Theater fast nicht mehr aushält” (ebd. 46), indem er an William Forsythes Choreographie “Gänge” lobt, daß sie sich dem schnellen Verstehen entzieht (ebd.), und schließlich in den folgenden Leitsätzen seiner Theorie: “Theater wird erst dadurch lebendig, daß ein Element immer das andere in Frage stellt. Die Bewegung stellt den Stillstand in Frage und der Stillstand die Bewegung. Der Text stellt das Schweigen in Frage, und das Schweigen stellt den Text in Frage, und das kann man endlos fortsetzen.” (ebd. 47)
Verfolgt man Müllers Äußerungen zum Schweigen und dessen Verhältnis zu Text und Sprechen, so wird eine Spaltung erkennbar, die nicht nur Sprechen und Schweigen, sondern noch das Schweigen selbst betrifft: Auf der einen Seite steht das Schweigen, das im Grunde noch Teil des Schreibens, des Textes und des Sprechens ist. Über sein frühes Stück DER LOHNDRÜCKER hält er fest, dass “überall wo später die Arien kommen", in diesem Stück “Pause oder Schweigen” stehe. “Das ist sicher kein Zufall und liegt nicht daran, daß ich keine Sprache hatte, sondern daran, daß die Figuren keine Sprache hatten oder nicht mehr Möglichkeiten, sich zu artikulieren.” Schweigen bleibt hier mimetischer Ausdruck einer selbst beredten Sprachlosigkeit. Darüber hinaus gibt es jedoch noch ein anderes Schweigen, das zur Sprache kommt, wenn Müller davon spricht, dass er beim Schreiben “das Loch zwischen Sätzen oder zwischen Worten nicht genau” sehe. “Wenn ich schreibe, ist das einfach ein Text. Ich bemerke dieses Schweigen erst Wochen oder Monate später, wenn ich den Text lese, oder wenn er aufgeführt wird. (...) Ich schreibe mehr, als ich weiß.” (GI 1, 100) Von diesem anderen Schweigen ließe sich vielleicht sagen, dass es der jedem Sprechen und jedem Text gleichursprüngliche Verweis auf das Schweigen des Anderen ist. Von ihm ist in einem Monolog die Rede, der in DER AUFTRAG, von einer “Frau/Stimme” gesprochen, am Beginn des Sprungs in die Vergangenheit steht: “Ich bin der Engel der Verzweiflung. Mit meinen Händen teile ich den Rausch aus, die Betäubung, das Vergessen, Lust und Qual der Leiber. Meine Rede ist das Schweigen, mein Gesang der Schrei. (...)” Der Engel bezeichnet mit Rausch, Betäubung, Vergessen, Lust und Qual der Lei-ber, Schweigen und Schrei das, was auf den Zwiespalt in jeder rein rationalen Rede verweist, was sie unterbricht und die An-kunft eines immer noch ausstehenden anderen ankündigt, ohne es vor-weg-zuneh-men. Er verkörpert, was vor den Worten Wort ist, den schweigenden Träger der Rede.
Das dem Text gleichursprüngliche Schweigen kann ausgehend von dieser Passage als dessen Material bezeichnet werden: Damit ein Text sprechen kann, bedarf er eines stummen Trägers, wie es - die Szene zeigt es - damit es zum Sprechen kommt, einer selbst schweigenden oder potentiell anders sprechenden Stimme bedarf. Das Problem des Theaters, das Müllers zitierter Schlusssatz anspricht, lässt sich deshalb von Neuem in Müllers Äußerungen über die Missachtung des Textes als Material wiederfinden: “In Deutschland”, so Müller, “akzeptieren Regisseure nicht, daß Text Material ist, das für sich spricht. Es soll mit aller Macht zum Sprechen gebracht werden. Und damit bringt man es zum Schweigen.”
Was damit zum Schweigen gebracht wird, ist der Text als Realität: "Texte müssen zu einer Realität werden, die nicht einfach abbildet, sondern die Sehnsucht oder Ahnung eines möglichen anderen nahebringt. (...) Der Text darf nicht als Mitteilung, als Information transponiert werden, sondern muß eine Melodie sein, die sich frei im Raum bewegt. Jeder Text hat einen Rhythmus, zwar nur unterschwellig, aber doch so spürbar, daß er wie bei einem Popkonzert vom Körper aufgenommen wird. Das wäre die Qualität, die das Theater wieder bekommen muß, aber dazu braucht es sehr gute Texte. Gute Texte leben von ihrem Rhythmus und strahlen ihre Information über diesen Rhythmus ab (...)."
Was Müller mal Schweigen, mal Material und hier Rhythmus nennt, kann, wie andere Äußerungen zu diesem “Rhythmus” belegen, auch als Vorgängiges bezeichnet werden, das Schreiben, Text und Sprechen hervorbringt und antreibt, ohne selbst darin aufzugehen. (Vgl. GI 1, 127) “Die Stoffe”, so liest man an einer Stelle, “sind relativ zufällig. Aber der Rhythmus von Schreiben, Malerei, Musik oder von was immer ist eine ganz subjektive körperliche Angelegenheit, eine Kommunikation mit dem ganz eigenen individuellen Code. Was sich um diese Moleküle schließlich gruppiert, ist objektiver Zufall.” (LN 71) Es geht hier, wie das Molekül-Bild nahelegt, um den Grund einer fortwährenden Unruhe im Schreiben und Sprechen, um ihren dezentrierten, aus mindestens zwei Atomen bestehenden Kern, ihre, mit Benjamin gesprochen, “Mitteilbarkeit” und dabei um das je Singuläre, das als solches nur zu hören ist, wo das Hören sich nicht länger mit Ideen, Stoffen, Worten und Formulierungen begnügt, sondern über diese hinaus sich als dem Theater zugehörig begreift. Erst wo das Hören den gesamten Körper umgreift, wird der “Rhythmus” hörbar - und mit ihm, als dessen begleitendes Ent- oder Aussetzen das Schweigen des Theaters. Was Müller als “Rhythmus” bezeichnet, hat so letztlich weniger mit dem zu tun, was unter diesem Begriff sonst in der Theorie auftaucht, als vielmehr mit jener Zäsur, die Hölderlin als “gegenrhythmische Unterbrechung” bezeichnete.
(2) Eine Unterbrechung
Ich kann dies am besten verdeutlichen, indem ich zu einer Unterbrechung übergehe. Sie hat die Gestalt einer langen Passage aus der Schauspielerarie im HAMLET, die Müller mit einer gewissen Abruptheit in seinen Brief an Gotscheff einrückt. In ihrer Mitte wird von einer weiteren Unterbrechung erzählt: Mitten in der Tötung des altersschwachen Priamus hält der Schlächter Pyrrhus mit erhobenem Schwert über dem in Erwartung des Schlages bereits gefalle-nen Greis inne. Wir lesen darüber in Müllers Übersetzung:
"(...) Das tote Ilium
Als fühlt es diesen Schlag, beugt flammend jetzt
Mit seiner Höhe sich auf seinen Grund
Und nimmt mit einem fürchterlichen Krachen
Gefangen des Pyrrhus Ohr: Dann seht, sein Schwert
Das schon sich senkte auf das milchige Haupt
Des Priamus, schien in der Luft zu stehn.
So, ein gemalter Schrecken, stand er, Pyrrhus
Und, wie parteilos zwischen Kraft und Willen
Tat nichts.
Doch wie wir oftmals sehn vor einem Sturm
Ein Schweigen in den Himmeln, die Wolken still
Sprachlos die Winde und der Erdkreis unten
Dumpf wie der Tod bis der gewaltige Donner
Die Luft zerreißt. So, nach der Ruhe, treibt
Die Rache neu den Pyrrhus an die Arbeit (...)". (MA 66, meine Hervorhebungen, NMS)
Diese Passage ist in Müllers Text wie bereits vor ihm in vielen anderen Texten vielfach überdeterminiert. Hier sollen in ihr lediglich die Aspekte des Schweigens und des Hörens in ihrem Verhältnis zum Sprechen und Handeln untersucht werden und dabei Müllers implizite Theorie des Schauspielens.
Gustav Landauer sah in der zitierten Passage den Schlüssel zur Deutung von Shakespeares Stück angelegt, Hamlet als Zauderer, als Figur des "Zwiespalts" zwischen Blutforderung und Denken , des Risses, der durch die Welt geht (GL 231) und der "Stellung zwischen zwei Zeitaltern" (GL 239), ein Repräsentant der Modernität, deren Resultat die lähmende "Neutralität des Geistes" (ebd.) sei. Müller dürfte auf diese Deutung anspielen, wenn er die Passage als “Wunschkonzert für den Intellektuellen, der kein Blut sehn kann und es doch saufen will” (MA 65), einführt, und dabei zugleich die Figur des Hamlets wie auch Neoptolemos in seinem eigenen PHILOKTET meint. Landauer deutet die Haltung des Pyrrhus - und also Hamlets - dahin-ge--hend, dass er "gegen seinen eignen Willen und gegen seinen ei-genen Gegenstand, gegen sein Objekt, seinen Zweck neutral" stehe (GL 217):
"(...) im Schwung bleibt ihm das Schwert wie festgehalten in der Luft stecken, und so ist er in diesem Augenblick nicht der Täter, nur das Bild, die Phantasiege-stalt, das wie in die Unbeweglichkeit gebannte Gleichnis der Tat. (...) er zerfällt in sich, mit sich, in zwei: in den Täter und den Betrachter, oder besser gesagt: in den, der eine auferlegte Tat zu vollbringen sich vorsetzt, und in den, der sie nicht in Wirklichkeit, sondern in der Phantasie vollendet."(GL 218)
Hamlet ist in Landauers Deutung eine Figur des unaufhebbaren Widerstreits, der als solcher bestehen blei-ben muss - eher Ent- oder Verunstaltung als Gestalt, eher Figur der Zerstreuung der Worte als ihrer Ballung, eher der Undar-stell--barkeit der Gesellschaft als ihrer Formierung.
In Müllers Text wird aus dieser Haltung - des Täters, der zugleich Betrachter ist, der "in sich, mit sich, in zwei" zerfallenden Figur - das Modell des Schauspielers. In seiner emphatischen Eloge auf Gotscheffs Inszenierung lobt Müller, dass dort in der “Nabe des Stücks” das Stück durch den Prolog unterbrochen, ein Freiraum des Zuschauers eingefügt werde, frei für das Denken eines andern Ablaufs. (MA 68) Diese Nabe des Stücks bezeichnet er dann - wohl in Anspielung auf die eben zitierte Passage - als “die stille Mitte des Sturms”. (ebd.) Was heißt es, zu spielen, als stünde man in der “stillen Mitte des Sturms”, aufgespalten “in den, der eine auferlegte Tat zu vollbringen sich vorsetzt, und in den, der sie nicht in Wirklichkeit, sondern in der Phantasie vollendet"? (GL 218) Die von mir hervorgehobenen Wendungen in der zitierten Passage können als Antwort auf diese Frage gelesen werden: Was Pyrrhus in ihr einhalten lässt, ist ein Geräusch, das ihn ergreift, die buchstäbliche Gefangennahme seines Ohrs. Ein Hören hält den Fortgang auf und stellt die Handlung, das Schlachten, aus. Das Hören aber, das auf das fürchterliche Krachen des einstürzenden Iliums reagiert, darin liegt das Bemerkenswerte und vermutlich der Grund für Müllers Zitatmontage, wird bei Shakespeare einem “Schweigen” verglichen, das das Sprechen der Winde unterbricht. (“Schweigen” übersetzt hier Shakespeares “Silence” äußerst sensibel, denn gleich darauf heißt es, dass die Winde sprachlos seien - “The bold winds speechless” .) Das Modell für Theater und Schauspielen liegt in einem innehaltenden Spiel, einem Handeln und Sprechen, das sich im Hören auf ein anderes Handeln unterbricht, im Hören auf etwas, das nicht in seiner Macht steht, sondern den Handelnden gleichsam zur Geisel nimmt: Pyrrhus mutiert in dem Moment zum “gemalten Schrecken”, zum Müllerschen Schauspieler par excellence, in dem der Rhythmus oder das Maß seines Handelns durch einen anderen Rhythmus oder ein anderes Maß unterbrochen wird, wobei der Vergleich nahelegt, dass dieses andere Maß oder Maß des Anderen maßlos ist, eine Leere, die sich dort auftut, wo die Mythologie Gott verortete, ein “Schweigen in den Himmeln”.
(3) Müllers Praxis des Schreibens
In Müllers impliziter Anweisung an den Schauspieler ist die Vorstellung eines Sprechens und Spielens enthalten, das sich als Hören begreift und deshalb innehaltend den Freiraum für einen anderen Ablauf, die anderen Möglichkeiten eröffnet. Ein solches in sich gespaltenes Spiel aber wird immer nur möglich sein, wenn bereits der Text als dergestalt in sich gespaltenes Material begriffen wird, als “Schauplatz der Schrift”, in sich gespaltene Stillstellung einer Bewegung, die wie Pyrrhus zwischen Iliums Fall und dem des Priamus an jeder einzelnen Stelle, gleichsam zwischen mehreren Polen oszillierend, sich auskristallisiert hat.
Und in der Tat bestätigt der Blick auf Heiner Müllers Manuskriptblätter: Es gibt bei ihm eine gemeinsame Wurzel des Schreibens und des Theaters, wie er es in seiner Theorie entwirft. Diese Blätter sind gewissermaßen Theatrographien, Bühnen für die Worte, auf denen Müller teils wie ein Graphiker zeichnet, teils wie ein Regisseur arrangiert und inszeniert. Der Text, der entsteht, wird von ihm auf dem Blatt so angeordnet, als sollten die einzelnen Elemente die Freiheit bewahren, verschiedene Plätze einnehmen zu können, unterschiedliche Verbindungen einzugehen oder an unterschiedlichen Stellen zu intervenieren. Kein Element seines Materials interessiert Müller ohne Zusammenhang. Jedes verweist auf eine Gruppe anderer Elemente, als deren Mitgeschriebenes es auftaucht. Gleichwohl stellt es die Eigenart von Müllers “Technik” dar, dass gerade das, was den Zusammenhang herstellen würde - die “Übergänge” oder “Motivierungen”- weggelassen wird. Durch einen Schnitt, der die Darstellung vom Dargestellten, das Erscheinende von seiner Bedeutung und seinem Sinn trennt, wird in den Abläufen das Denken der anderen, verborgenen Möglichkeiten befördert, sie liegen nicht im Verweis auf das konkrete Mitgeschriebene, sondern vielmehr in der Eigenschaft des mit selbst.
Was in den Texten, die Müller veröffentlicht, bleibt, sind “Stellplätze der Widersprüche”, wie er sie nennt, gesättigt von den Spannungen zwischen Schriftbild und Aufzeichnung der Laute, zwischen Laut und Bedeutung, Bedeutung und der Art und Weise des Bedeutens. Ein Beispiel, fünf Zeilen, gewählt aus dem Text, den Müller in seinem Brief kommentiert, aus Philoktet, mag dies illustrieren. Philoktet, der Kämpfer, der durch den Gestank seiner Wunde für die Griechen untragbar geworden war und deshalb auf einer einsamen Insel ausgesetzt wurde, muss um des Sieges in Troja willen von Odysseus zurückgeholt werden. Da er in Odysseus seinen schlimmsten Feind sieht, muss Neoptolemos versuchen, ihn zur Rückkehr zu bewegen. Nun folgen die ersten Zeilen des Philoktet in Müllers gleichnamigem Text:
"Ein Lebendes auf meinem toten Strand.
Ein Ding, das aufrecht geht wie vordem ich
Auf anderm Boden mit zwei heilen Beinen.
Wer bist du, Zweibein? Mensch, Tier oder Grieche?
Und wenn du der bist, hörst du auf zu sein."
Die Sprache dieser fünf Zeilen - wie des gesamten Monologs, der auf sie folgt, und überhaupt des Stückes - lässt sich, wenngleich nur bis zu einem bestimmten Punkt, formalisieren: Jeder Vers besteht, je nachdem, ob er stumpf oder klingend endet, aus zehn, bzw. elf Silben. In den ersten beiden Zeilen gilt auf der Ebene des Versmaßes die von Shakespeare über das späte 18. Jahrhundert in die deutsche Dichtung gekommene Ordnung des Blankverses, das sich in den folgenden Versen auflöst, erstmals im dritten Fuß des dritten Verses, exakt an jener Stelle, an welcher der fußkranke Philoktet Bezug nimmt auf die heilen Beine des anderen und dabei zugleich auf die einst ebenfalls heilen eigenen Beine: Der kranke Fuß hinterlässt also gleichsam eine Spur im Kranken des Versfußes. Im vierten Vers bleibt das Schema gestört, die Verdoppelung kurzer oder langer Silben übersetzt hier gleichsam die auf der semantischen Ebene aufgestellte Frage nach der Herkunft des “Zweibeins” in einen Versfuß, der im Vergleich zum hinkenden Jambus (kurze Silbe, lange Silbe, bzw. unbetonte/ betonte Silbe) zweibeinig (kurz/kurz) oder (lang/lang) auftritt. Erst am Ende der fünften Zeile stellt sich im Moment der Todesdrohung die Ordnung des Verses wieder her. - Wenn es nun scheint, als gingen Rhythmus, Metrum und semantische Folge der Zeilen miteinander einher, so ist vielleicht eine Warnung angebracht: Es ist, je länger man sich mit Rhythmus und Metrum von Müllers Versen beschäftigt, auffällig, dass man beinahe immer auf eine gestörte Abfolge stoßen wird: So ist an verschiedenen Stellen dieser Verse nicht entscheidbar, ob Silben lang oder kurz zu sprechen sind, auch gibt es Unregelmäßigkeiten in der Abfolge der Betonungen. Über die semantische, rhythmische und metrische Ordnung hinaus lässt sich in diesen wie in allen Versen Müllers eine mitunter geradezu dominante Vorherrschaft rhetorischer Figuren beobachten, zuerst und vor allem der des Chiasmus: Dem Wechsel vom “Lebenden” zum Toten in der ersten korrespondiert der gegenläufige vom toten “Ding” zum Laufenden in der zweiten Zeile, was das Kreuzband des Chiasmus dabei einschließt, gleichsam die Lücke im Zentrum ist jener dritte Zustand, weder lebend, noch tot, für den der an einen anderen Ort, ins Abseits, auf die Insel verstoßene Philoktet auf jeder der hier analysierten Ebenen steht. Philoktet, das charakterisiert seine Figur, führt in die binären Ordnungen ein Drittes ein, nicht von ungefähr setzt er der Gleichung Grieche/Barbar, für die der Feldherr Odysseus steht, nicht einfach diejenige Mensch/Grieche, sondern vielmehr die des “Mensch, Tier oder Grieche” entgegen. Im “Tier oder Grieche” hält er in Erinnerung, dass die klassische, humanistische Ordnung nicht einfach durch die Entgegensetzung zwischen Mensch und Nicht-Mensch, bzw. Grieche und Barbar charaktisiert ist, sondern darüber hinaus als solche auf eine sie unterlaufende, demarkierende Ordnung verweist, die Mensch und Nicht-Mensch, Freund und Feind gleichermaßen entsetzt, das Tierische als die körperliche, kreatürliche, dem Verfall und der Verwesung anheimgegebene Seite, die beide Seiten der Opposition gleichermaßen eint, wie auch jeweils in sich von sich trennt. Was das Tier oder der hinkende, stinkende, verletzliche Körper auf der semantischen und metrischen Ebene ist, das ist auf der graphematischen Ebene der Buchstabe: Wenn von “zwei heilen Beinen”, von “Zweibein” oder von “Tier oder Grieche” die Rede ist, so ist das Spiel mit den Assonanzen, der anagrammatischen Verbindung unüberhörbar. Mitunter gewinnt es im Verlauf des Textes die Oberhand, überlagert alle anderen Ebenen, lässt einen als Leser oder Hörer über dem Klang alles vergessen, was in und mit ihm zur Sprache kommt.
Die Analyse dieses und anderer Müller-Texte wird in dem Maße zur unabschließbaren, wie der Text nicht vorschnell einer der vielen fürs Theater wie für die Wissenschaft bereitgestellten Dispositiven der Normalisierung unterworfen wird. Wird der Text als ein in jeder Hinsicht - auf allen erwähnten Ebenen - bedeutender begriffen, dann wird seine Übersetzung ins Sprechen der Schauspieler oder Performer zwangsläufig als veränderte Wiederholung er-scheinen müssen, als "Zerreißprobe für die Beteiligten" (MA 63), deren Spiel durch das, was ihnen in Schrift- und Lautsprache mitspielt, beständig aus dem Takt zu geraten droht. Abstrakt könnte man von einer be-stän-digen theatralischen Oszillation zwischen Ausdruck und Rhetorik, Rhythmus der Bedeutung und Metrik der (Vers)sprache reden. Der Moment, in dem es nicht zu einer "gegenrhythmischen Unterbre-chung" kommt - des Rhythmuses durch den ihm verbundenen und zugleich von ihm getrennten zweiten Rhythmus -, müsste gleichsam als Ausnahme von der Regel erscheinen.
In der wech-selseitigen Infragestellung tritt, wie Müller in seinem Text schreibt, der "Ort des Theaters im Zeitraum zwischen Stoff und Darstellung" (MA 67) hervor: Der Stoff ist nur in seiner Darstellung zugänglich und die Darstellung ist immer zugleich Darstellung des Stoffes. Beide werden erst in dem Moment als auseinanderstrebende sichtbar, in dem das Theater anstelle der Schrift des Textes das Spiel der Bühne setzt und dabei in der Differenz zwischen der ersten und der zweiten Vorstellung die zeitliche und räumliche Differenz sichtbar werden lässt, die bereits die erste in sich von sich trennt, anders gesagt: das Schweigen als den Grund der Sprache des Theaters.
Schlussbemerkung
Was Müllers Texte wie seine Theorie des Theaters zur Frage, was auf dem gegenwärtigen Theater Sprechen heißt, beizusteuern haben, lässt sich vielleicht auf die einfache Quintessenz bringen, dass Müller weder Text noch Theater, und im Text kein einziges Wort, keine Bindung und keine Trennung, ja keinen Buchstaben als bloß dienendes Element betrachtet. Auf seinen Schauplätzen der Schrift behauptet jedes Element das gleiche Recht und dies, weil jedes nur in seinem “mit”, seinem Verweis auf die ihm gleichursprüngliche Konstellation, von Interesse bleibt. Mit dieser Auffassung von Buchstabe, Text und letztlich Theater hält Müller auf der handwerklichen Ebene jener Politik die Treue, die man vielleicht als den immer noch kommenden Kommunismus bezeichnen könnte. Dieser ist in der Gegenwart als Abwesenheit oder Leere zu erfahren, überall dort, wo im Sprechen der Gegenwart ein Schweigen auf eine immer noch im Kommen begriffene andere Zukunft verweist, auf die Zukunft des Anderen. |