massakermykene
nachträge zu massakermykene 11/2000, hans-thies
lehman u.a. |
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Wien, Schlachthausgasse
Nachträge zu Massakermykene des "theatercombinat" (3.-5.11. 2000)
von
1 Nikolaus Müller-Schöll, 2 Ulf Schmidt, 3 Kattrin Deufert, 4 Hans-Thies Lehmann,
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Wer aus dem Theater kommt, der hat im allgemeinen eine Geschichte zu erzählen: Wovon es gehandelt hat, wie es anfing, wie der Schauspieler A den X gegeben hat, und mit welchen Mitteln der Regisseur B die schwierige Passage im dritten Akt inszeniert hat. Gehört das Theater der Avantgarde an und ist der Zuschauer ein Kenner, so wird er vielleicht Bemerkungen über die ästhetischen Neuerungen und Kühnheiten hinzufügen, über Licht, Bilder, Raum und Zeit, über Provokationen und Erfindungen. War der Abend mißlungen, so verschafft dem Theatergänger zumindest noch die Manifestation seiner Wut und seiner Enttäuschung ein spätes Genügen. In jedem Fall wird er mit dem Gefühl heimkehren, um eine Erfahrung reicher zu sein.
Dem Besucher, der aus "massakermykene", der auf 36 Stunden angelegten "Veröffentlichung" des Wiener "theatercombinats" kommt, fehlt dagegen zunächst einmal etwas. Will er beschreiben, was er gesehen hat, so ist er auf Negationen angewiesen: Keine Repräsentation, kein Werk mit Anfang, Mitte und Ende, keine Tragödie, deren Helden am fünften Akt sterben, keine Handlung, keine Stellungnahme zu irgendetwas, keine Illustration von irgendetwas, überhaupt nichts, was sich überschauen ließe, vielleicht noch nicht einmal ein Spiel, eher schon ein Stück Leben, eine Haltung, ein Ritual. Der Besucher, kein Zweifel, hat eine Grenzerfahrung im buchstäblichen Sinne gemacht, er ist an die Grenze seiner Theatererfahrung gelangt, und wenn ihm seine Erfahrung bisher sagte, was Theater ist, so kommt er nun um eine Erfahrung ärmer zurück.
Doch wohin kommt er zurück? Ebenso radikal wie das Theater stellt das theatercombinat dessen Begrenzungen infrage. Wie Musils "Fliegenpapier" die Fliegen oder Kafkas "Gericht" die Passanten zieht dieses Theater den Betrachter ins Spiel, und sei es nur, weil auch ihn die Müdigkeit überfällt, die Kälte bekriecht, die Nässe klamm macht, der Lärm des Regens auf dem Dach der Halle betäubt, der Staub der Hallen beschmutzt. Mit dem Eintritt in das Schlachthofgelände teilt er mit den Spielern und ihren Regisseuren den Spielraum, ist wie sie Teil eines Prozesses geworden, dessen Regeln nicht restlos bekannt sind. Die Konsequenz ist, daß er daran weder teilnehmen kann, wie am Mitmach-Theater, noch sich auf einen festen Betrachterstandpunkt zurückziehen kann. Immer ist er zugleich zu nah am Geschehen wie auch zu weit davon entfernt. Was ausfällt, ist die Konvention, die den Abstand regelt. Liegt es daran, da8 es ihm beim zeitweiligen Verlassen des Spektakels ist, als betrete er nun die uneigentliche, durch künstliche Regeln geordnete Welt, eine Kulisse? Und daß er glaubt, zurückzukommen, wenn er die Hallen wieder betritt. Doch inmitten der Grenzerfahrung erfährt der Besucher vielleicht eine andere Grenze, die der Auflösung des Codes. Wo alles verschwindet, was das Theater sonst zusammenhält, da treten inmitten des Chaos Elementarteile hervor, die sonst gleichsam das Unbewußte, gberspielte des Theaters sind, dasjenige, was aus dem Strahl der Aufmerksamkeit um des Zwecks, der Fabel, des Zusammenhalts, der Codierung willen verbannt werden mußte: Die wechselnde Konstellation der Spieler, das Zusammenspiel und die Differenz der Stimmen, die Gesten, die Beziehung der Spieler zur Zeit des Spiels, die Platzierung im gegebenen Raum, das Verhältnis der Worte zu den Geräuschen der Umgebung (der Autos, des Regens, der Stimmen der Zuschauer), die Laute der Worte, die Intonation, die Rede als Gesang, die Sprache als Klang. Im zertrümmerten Theater und seiner Tradition treten die niemals sich zu einem Ganzen fügenden Bruchstücke eines anderen Theaters hervor, eines in jeder Aktualisierung über sie hinausweisenden Theaters der reinen Potentialität.
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Der Überblick des Zuschauers löst sich auf, der in den üblichen Theaterräumen sitzt, wie einst Zeus auf dem Olympos und das Treiben beobachtet, eine Haltung vermittelnd, als gäbe es ein solches Außerhalb, von dem sich neutral beobachten ließe, einen extramundanen Ort, der den Zuschauer aus dem Rahmen hinaushebt. Hier im Schlachthof wird der Zuschauer zum Zuschauspieler nicht etwa, weil er sich in die Rolle des Zuschauers zu fügen hätte, sondern weil er im Spiel ist, das ihn vom Beobachter zugleich zum Beobachteten macht. Überquert in einem Theater der strengen Trennung zwischen Bühne und Publikum in die eine Richtung diese Grenze die Stimme des Schauspielers, in die andere Richtung der Blick des Zuschauers, der sich beruhigt darauf zurückziehen kann im Dunkel des Publikums zu verschwinden, so ist in diesem Schlachthof der Blick zweiseitig, der Zuschauer zugleich ein Angeblickter, nicht nur von anderen Zuschauern etwa, sondern auch von denen, die sich traditionell nur zu sehen geben, die Schau-Spieler. Der Blick trifft und plastifiziert oder trifft nicht und läßt Freiheit. Es ist eine Frage von Nähe und Distanz, die die Blicke stellen. Sich dem Blick zu stellen, heißt zugleich die Distanz zu wählen zwischen einer zu großen Nähe und einer zu großen Ferne, der Übergang ist fließend. Noch ist die Bewegung frei, noch nähert man sich dem Sprecher an, um seine Worte, die Worte von Aischylos oder Brecht, genauer zu vernehmen, dann aber trifft der Blick des Sprechers, stellt die Frage nach der Nähe, etwa wenn er nackt ist, der Sprecher. Wie weit kann man sich einem Nackten annähern? Wann ist die Grenze überschritten? Wie lange kann ich verweilen und wie lange muß ich bleiben? Hat sich dieses Spiel von Sehen und Gesehenwerden erst eingestellt, hat sich die Nähe eingestellt, bedeutet ein Wegsehen und Weggehen den Riß. Plötzlich zerreißt die Nähe, zerreißt die Beziehung, bleibt nichts als Einsamkeit. Keine Einsamkeit, die sich aus der Distanz betrachten ließe, auf einer Bühne. Diese Einsamkeit ist nicht geborgt.
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Gehen, ich gehe jetzt lieber wieder. Bewegung ist die einzige Möglichkeit, das eigene Wachbleiben-Wollen in der Kälte im Schlachthof während des ,Mykene-Massakers' auszuhalten. Im Theater von Claudia Bosse und Josef Szeiler, das von sieben Spielerinnen eineinhalb Jahre lang Tag für Tag und Nacht für Nacht in Gang gehalten wurde, herrschen einfache Spielregeln, auch während des 36 Stunden andauernden öffentlichen ,Schau-Prozesses' am Ende: komm' mit oder lauf' weg! Ein Kinderspiel, vorläufig schon, in dem nichts passiert, vorübergehend. Ein Wettlauf der Zuschauer mit den Spielern gegen die Zeit oder ein Wettlauf von Spielern und Zuschauern mit der Zeit, die nebenbei auch noch vergeht. Was gespielt wird, entdecke ich erst beim Gehen, mit der Zeit. Auch, daß das Spiel ohne mich geht. Jede Aktion der Sieben läuft im Wissen darum, daß ,ich vorläufig bin' (Fatzer), vorübergehend. Es wird nicht für oder auf den Zuschauer hin gespielt, die kollektiven Aktionen sind selbstläufig, laufen reibungslos wie gut geölte Maschinen, die sich sprechend und bewegend in die Mechanik des Schlachthof-Geländes ein- und ausklinken. Die Spielerinnen nehmen sich ihre Zeit, die nicht die der Zuschauer ist. Zwischen den Aktionen wird gegessen, die Lage besprochen, ein Plan gemacht für den Ablauf des nächsten Spielversuchs. Meine Pausen sind andere, ideal unfrei sehe ich meine Teilnahme als Teil des Geschehens ununterbrochen, unregelmäßig und gegen die Spielökonomie. Meinem Hunger, meiner Kälte und meiner Müdigkeit begegne ich in meinem Müßiggang, in dem ich den Spielern immer wieder aus dem Weg zu gehen versuche. Was geht mich eigentlich deren Spiel an? Trotzdem versuche ich mitzukommen, die 36 Stunden lang im Schlachthof wach zu bleiben. Nach vielen Stunden dringen die Stimmen und Bewegungen der Spieler auch durch die Betonwände hindurch auf mich zu, auch wenn ich sie nicht mehr sehen kann, mich abseits verhalte. Am frühen Sonntagmorgen vor Sonnenaufgang bemerke ich ihr Fehlen. Die Spieler scheinen spurlos verschwunden, die Betonwände zeigen bloß schon das Morgengrauen. Die Sieben sind mir zuvorgegangen, ihr vorläufig letzter Versuch fand draußen vor den Schlachthof-Toren statt. Da geht er, der Chor im Klang der ,Orestie', zieht aus der Stadt. Geht weg und in mir geht sie noch immer umher, diese Zeit.
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Was eigentlich los war? Ein Halbdutzend Menschen. Ein gewaltiger Raum. Eine lange Zeit, eineinhalb Jahre plus 36 Stunden. Brecht, Aischylos. Und Gäste. Sie finden vor: Stimmen, gestische Improvisationen, Pausen, Leer-Zeit. Ein Angebot, "dazusein". Die eigene Anwesenheit ein Selbstversuch. Wenig, fast nichts scheint zu passieren, aber dann Spielmomente: Dahinten, stark, kräftig, rhythmisiert, Chorgesänge. Später: zwei Stimmen aus der Nebenhalle, präzis und dringlich. Und auf einmal neben dir, physisch nah, ein Flüstern, Sprechen wie nur für dich bestimmt. Tritt näher, geh fort, alles ist möglich. Kein Theater.
Kein Theater? Ein Kraftfeld aus Raum und Dauer, Gesten, Sprechen, Schweigen. Begegnungen, inszenierte und zufällige, persönlich-private und "ästhetische". Für alles ist Zeit. Mein Wahrnehmen ist meine Inszenierung. Möglich gemacht von der fast unbegreiflichen Ausdauer, inneren Intensität der Spieler, zweifellos auch für sie das Theater ein Selbstversuch. Eineinhalb Jahre und 36 Stunden, ein Geschenk. Ihr Geschenk ist unsere Wahrnehmung. Ihre Zeit macht für uns alles neu fühlbar wie ein Unbekanntes, zum Beispiel den Raum, das Zementbodengrau, die Dachkonstruktion, die Tränk-Rinnen, die Eisengatter für tausende Stück Vieh, die Waagehäuser, die Blutrinnen. Sonst nichts.
Sonst nichts? Dies Theater - oder was es auch sei - ist Einladung. Man betritt, wenn man will, eine andere Zeitform. Irgendwann laden sich alle Gesten, alle Bewegungen, alle Blicke auf: mit den Stunden, die vorausgingen, mit dem Gefühl der Sicherheit, das von diesem Tun da für uns ausstrahlt und ein eigentümliches Vertrauen hervorruft. Was man erhielt, war eine - Gabe. Wenn es wahr ist, daß vielleicht Zeit das einzige ist, was man wirklich als eine (fast) reine Gabe schenken kann, ohne untergründige Tauschabsicht, dann haben wir hier ein Theater der Gabe erlebt. Was sie taten, war: "Die Zeit geben." Dank wird nicht verlangt - das ist ja, was die Gabe ausmacht. Gern würde man ihn geben, trotzdem, den Spielern, dem combinat. Ausgeliefert, sich ausliefernd, fast nicht zu verstehen, rückte ein Halbdutzend Leute für eine Zeit vom Tausch ab. Kein Markt, kein Eintrittsgeld, kein Tausch, kein Applaus. Theater.
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