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– reflexion | sean pfeiffer



 

über die performance in lindabrunn (9. september 2023 im symposion lindabrunn, niederösterreich)

BONES and STONES in the landscape
Über das Risiko der Relation

von Sean Pfeiffer

Unter den fünfundzwanzig oder dreißig Leuten, die vielleicht ein Publikum sind, sich vielleicht beteiligen an Claudia Bosses »choreografischem Environment« BONES and STONES in the landscape, ist ein Hund, sodass mir, wie wir zu Beginn des Abends über das Symposiongelände Lindabrunn wandern, eigentlich ausschwärmen, um uns an andrer Stelle wieder zu begegnen, der Gedanke kommt: ein Suchtrupp.
Die Frage, welche logisch darauf folgt – Suche nach was? –, beantwortet die Stückbeschreibung mit: »nach der Erinnerung der Steine«. Und es stimmt, dass die Besonnenheit, mit der die sechs Performerinnen sich der Landschaft widmen, ihre nackten Körper zu ihr sowie zueinander ins Verhältnis setzen, über unsere alltäglichen (auch künstlerischen) Seh- und Hör- und Spürgewohnheiten hinaus auf etwas hindeutet, das älter ist, das tiefer geht, dessen Abhängigkeiten und Zusammenhänge andere Formen der Annäherung fordern. Gleichzeitig oder infolgedessen werde ich mir wie vielleicht an sonst keinem Performanceabend fortwährend der Oberfläche, ihrem Hier und Jetzt, bewusst. Zu Anfang schon, als Christa Zuna-Kratky, einen Mammuthüftknochen sextantenartig vor den Körper geklemmt, den restlichen Performerinnen nicht bloß aus der Ferne mit den Augen folgt, sondern sie wie an einem unsichtbaren Faden übers Feld zu ziehen scheint, begreife ich angesichts ihrer Hochkonzentration mein Unvermögen, mich auf die Arbeit als solche – wenn es sie denn gibt – zu konzentrieren.
Tausend Kräfte wirken pausenlos auf mich, auf meine Oberfläche ein: Der Boden, auf den ich im Gehen acht gebe, um nicht zu stolpern. Die anderen Zuschauenden, die sich unmöglich ausblenden, unmöglich aus dem Bild, aus dem Bewegtbild, welches die Performerinnen in und mit dem Areal ergeben, extrahieren lassen. Das Motorrad, das über die anliegende Straße fegt. Der Helikopter. Die Libelle. Wie die Gräser mir über die Beine streichen. Mir ist kalt. Vielleicht hat mich etwas gebissen. Wann ist es so still geworden? Das Kratzen meines Füllers im Notizbuch ist mit einem Mal das Lauteste, ohrenbetäubend.

BONES and STONES in the landscape, claudia bosse, symposion lindabrunn, 2023, photo: eva würdinger

Später sitzen nicht weit von mir zwei Kinder auf einem erhöhten Stein, schauen auf die Performerinnen, die sich im amphitheaterhaften Felsarrangement einrichten, herunter. »Von hier oben aus können wir alles absehen«, sagt eins zum andren, ein Gefühl, das mir ferner nicht sein könnte, schließlich gelingt es mir in kaum einem Moment, die sechs auf einmal in den Blick zu fassen, nur sie in den Blick zu fassen, ihn, den Blick, nicht vom Geschehen weg und – da ja überall etwas geschieht – ins Tal, zum Himmel, in die Baumkronen, herunter auf die Schuhspitzen wandern zu lassen; trotzdem mag es recht haben damit, dass sich hier oben mehr, ja alles wahrnehmen lässt, man nicht anders kann, als sich der Dinge – mit ihnen der Sinne –, ihrer unbedingten Überlagerung, gewahr zu werden, eins am anderen zu prüfen. Oder wie eine der Performerinnen, Carla Rihl, es später mantrahaft ins Mikrofon spricht: »Reality consists of processes rather than material objects; these processes are defined by their relations to other processes.«
Günther Auers gleichermaßen zutiefst irdisch wie außerirdisch anmutenden Live-Sounds arbeiten sich mit solcher Geduld in meine Wahrnehmung der Landschaft (Auer selbst wird erst nach einer Weile hinter einem Hügel sichtbar), dass ich sie, wenn sie dann ausgewachsen über die Performance hereinbrechen und sie in ausgewählten Augenblicken sogar einzunehmen scheinen, längst als zum Gelände zugehörig akzeptiere, als maßgeblich an der Konstruktion der menschlich-nichtmenschlichen Assemblage, in die das Gelände sich verwandelt hat, beteiligt. Mit ihnen die schwarzen Lautsprecher, die einerseits die kahl werdenden Stämme, zwischen denen sie auf Stative montiert stehen, evozieren, und sich ihnen gleichzeitig entgegenstellen; die neon-orangenen Gurte, mittels derer die Performerinnen Knochen und Gestein befördern, an den Felsen reißen und sie auf ihr Stehvermögen prüfen, und die auch, wenn schon die Dunkelheit hereinbricht und die umliegenden Bäume in der Nacht und in einander aufgehen, noch sichtbar sind; die schrillen, durch und durch menschengemachten Farben der geblümten Decken, in die sich die Performerinnen gegen Ende hüllen: dies ist kein Versuch, in der natürlichen Umgebung zu verschwinden, mit ihr eins zu werden, nein, im Gegenteil ist es das Aufeinandertreffen der organischen und anorganischen Materie, das Eingehen temporärer Partnerschaften und Korrespondenzen, dem hier Raum gegeben wird. Jede Bewegung, Handlung, Formation der Frauen strahlt neben der Möglichkeit auf andersartige und fruchtbare Begegnung auch eine Bedrohung und Bedrohtheit aus, als sei der Austausch zwischen Wesen – tot oder lebendig – weder unbedingt noch frei von Konsequenzen. Einmal brechen die Performerinnen aus der kollektiven Langsamkeit aus, um – jede an einen Stein geklammert (ich klammere mich instinktiv wie mit gespiegelter Heftigkeit an mein Notizbuch) – übers Feld zu jagen, rasen, uns die Steine – die in diesem Augenblick höchstes transformatives Potenzial aufweisen, Meteoren werden, Hirne und Versprechen – entgegenzuhalten, anzubieten, sie eine Sekunde später zielgerichtet von sich weg ins Gras zu stoßen, um sie gleich darauf beinahe entschuldigend wieder vom Boden aufzulesen, immer fest entschlossen, einen neuen Platz zu finden für sie – zwischen Gräsern, zwischen Fingern –, an dem sich ihr Potenzial womöglich einlöste. An andrer Stelle arrangieren sie am Fuße der enormen Steinkonstruktion Knochen, legen neue, von ihrer lebenserhaltenden und -aufrechterhaltenden Funktionsweise befreite Skelette: Pferd trifft auf Hirsch und auf Schwein, Schulter auf Schienbein und Elle und Schädel, der Femur eines Mammuts wird der beinahe fleischlich anmutende Oberkörper eines neu erdachten Wesens, Rippe legt sich vertikal an Rippe bis sich eine Wirbelsäule zu ergeben scheint, die Form derer wir nur Minuten später, als wir den sechs Frauen wie am Schnürchen von den Steinstufen wieder aufs freie Feld folgen, wie selbstverständlich annehmen, reproduzieren.
BONES and STONES in the landscape, claudia bosse, symposion lindabrunn, 2023, photo: markus gradwohl

Inzwischen ist es finster. Die Performerinnen, die wir eben noch kaum ein paar Meter vor uns auszumachen glaubten, sind verschwunden, verunmöglichen jeden Applaus; mit ihm die simple Auflösung einer Situation, einer Erkundung, einer Suche, welche alles andre ist als das, einem im Gegenteil die undenkbare Tiefe und die Flüchtigkeit, das mikroskopisch langsame und gleichermaßen unüberschaubare Driften derer Prozesse vor Augen führt, an denen wir uns messen, anhand derer die Prozesse, die uns selbst ausmachen, sich konstituieren. In ihrer Verweigerung, zu einem eindeutigen Schluss zu kommen, schwingt zudem noch etwas andres, ein Versprechen mit: Wir sind noch nicht fertig hier, können nie fertig sein.
Und also steht man, schaut man, schwenkt die Taschenlampe dahin und dorthin, und wird sich, bevor man gemeinsam in Richtung des leuchtenden Gasthäuschens trottet, dem ich intuitiv den mit einem Mal wie ausgeleerten Begriff der Zivilisation zuordne, auferlege, noch einmal der anfänglichen, mittlerweile ähnlich leeren Frage bewusst: Suche nach was? Denn es geht nicht, wie Rihl schon sagte, um das materielle – auch grammatische – Objekt (das in den nonverbalen Sätzen der Performancesprache Bosses schwer zu fassen bleibt), sondern um den Prozess der Suche selbst, seine Zerbrechlichkeit, das ständige Verorten, Neuverorten, Manövrieren der eigenen Oberfläche in der Welt. Bezüglich ihres vierjährigen »performativen Gewebes« ORGAN/ismus spricht Claudia Bosse vom Sich-Einlassen aufs »Risiko der Relation« – ein Risiko, das BONES and STONES in the landscape mich mit seltener Gesamtheit spüren lässt.


Sean Pfeiffer, geboren 2000 in Frankfurt am Main, schreibt Lyrik und Prosa sowie über zeitgenössischen Tanz und Performance. Seit Herbst 2021 Studium am Institut für Sprachkunst Wien. 2022 und 2023 Assistenz der Dramaturgie bei ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival.


– reflexion | stefanie diekmann
gelände, formationen | stefanie diekmann
 

Gelände, Formationen. stefanie diekmann über BONES and STONES in the landscape (2023) von claudia bosse

Landschaft / Gelände

In der Landschaft: die Bäume, die Bauten, die Skulpturen, die Steine sowie, von Anfang an: die Gestalten, von denen einige Performerinnen sind und andere Publikum, später auch: ein paar Schaulustige, die irgendwann auftauchen, eine Weile in Sichtweite bleiben und wieder verschwinden.

Zwischen den Bauten und den Skulpturen: viel Gewächs, Gras, Wucherungen, Gestrüpp, noch mehr Steine. Unebenheiten, eine gewisse Unwegsamkeit, die Pfade und Wege nicht immer gut erkennbar, die gesamte Anlage etwas unübersichtlich, was die Umgebung, in der sich Bones and Stones in a landscape in den Aufführungen vom September 2023 abspielt, auf den zweiten Blick zu einem Gelände macht.

Konzept der Landschaft: Welt als Tableau. In die Breite, Tiefe oder Höhe organisiert, begehbar keineswegs in allen Fällen, dafür umso gewisser als Objekt einer Betrachtung entdeckt, die von jenen ausgesuchten Positionen erfolgt, aus denen zu sehen ist, was andernfalls nicht zu sehen wäre. (Urszene: 1336, Petrarca und der Mont Ventoux, den er vermutlich nur in seiner Fantasie erstiegen hat.) Die Landschaft ist ein Objekt des Blicks, genauer, was als Landschaft erscheint, formatiert sich als Effekt eines neuzeitlichen Blicks: aus der Distanz und aus dem Begehren, der Bewegung, die mühsam ist und viel Zeit in Anspruch nehmen kann, einen anderen Modus der Erschließung gegenüberzustellen.


BONES and STONES in the landscape, claudia bosse, symposion lindabrunn, 2023, photo: markus gradwohl
Das Konzept des Geländes hingegen ist die Welt als Parcours. Nicht allein Bewegung, also: Gehen, Steigen etc., sondern: tentative Erschließung (Stolpern, Straucheln), dazu immer ein Moment von Erkundung, auf einem Terrain, das denjenigen, die dort unterwegs sind, einen gewissen Widerstand entgegensetzt. Das Geländefahrzeug als mehr oder weniger hochgerüstetes Vehikel entspricht diesem Konzept, in Bones and Stones kommt keines zum Einsatz (warum kann ich mir dann eines vorstellen?). Dafür sind vielfach geländetaugliche Schuhe zu sehen, die als „festes Schuhwerk“ gleich mit der Bestätigung der Anmeldung empfohlen werden, ebenso wie die Mitnahme von Trinkflasche und Taschenlampe. „Die Performance endet nach Sonnenuntergang.“

Nachtzeit
Nach Sonnenuntergang, das heißt: im Dunkeln, was am 10. September, auf dem Gelände des Skulpturenparks von Lindabrunn, etwas anderes bedeutet als am selben Abend in, zum Beispiel, Wien. Was im Licht des Tages, Nachmittages mit etwas Aufmerksamkeit noch begehbar war, verwandelt sich mit Einbruch der Dunkelheit in ein Terrain, in dem Abstände, Bahnungen, Aufteilungen auf einmal opak werden. Man sieht nicht sehr weit, ohne die verschiedenen Lichtquellen, die in der Stadt den Raum markieren und teilen. Die Orientierung im Gelände des Parks ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass sie auch bei Nacht gut funktionieren würde; und die Taschenlampe, die dann längst nicht alle dabei haben, reicht allenfalls aus, um den Weg für die nächsten paar Schritte zu bestimmen.

Nennen Sie es: site specific risk. Aber das Risiko, das an diesem Abend auf einmal mit dem Weg durch das Gelände verbunden scheint, ist zugleich absehbar gewesen, im Programm implizit markiert, insofern Bones and Stones auch als ein Experiment mit Zeitpunkten und den Effekten zeitlicher Verläufe beschrieben werden kann. Je nachdem, wann die Performance beginnt (um 19 Uhr am 9.10., um 18 Uhr am 10.10., um 17 Uhr am 16.10.), wird sie sich vor allem im Dunkeln, vor allem im Hellen oder, wie an diesem Abend, zu beiden Seiten eines Einschnitts abspielen, der die Bewegung durch das Gelände komplett verändert.

Der tageszeitliche Ablauf, der laut Überlieferung die Dramaturgie der Antiken Tragödie bestimmt hat: drei Tragödien, ein Satyrspiel, insgesamt also: eine Tetralogie, die, über den Tag ausgebreitet, ihr Ende am frühen Abend fand, ist in Bones and Stones in the landscape adaptiert, um in nur zwei Stunden eine maximale Veränderung der Lichtverhältnisse erfahrbar zu machen. Was unter den Bedingungen eines Tagesablaufs geordnet erscheinen mag: Auftritte, Abgänge, Anschlüsse, Übergänge, die Mechanismen der Eröffnung und der Schließung von Handlungsabläufen etc., gewinnt unter den Bedingungen des raschen Lichtwechsels ein Moment von Unberechenbarkeit.

Irgendwann, irgendwo stehen Sie an einer Stelle des Parks und wissen nicht genau, wo Sie sich befinden. (Topos: Angst des Kindes in dunkler Nacht.) Irgendwann wird die Performance beendet, aber das könnte auch schon einige Minuten her sein oder sich in diesem Moment, an anderer Stelle und außerhalb des eigenen Sichtfelds, abspielen. Irgendwo, näher oder weiter entfernt, stehen die anderen, die sich mit vergleichbarer Vorsicht durch das Gelände arbeiten, auf der Suche nach der Destination, die im erstaunlichen Dunkel der letzten Minuten von Bones and Stones den Ort des Übergangs markieren würde, an dem etwas aufhört, etwas anderes anfängt, und an dem sich die Rückkehr vorbereitet, die wieder zur Straßenbeleuchtung und zu den geordneten Sichtverhältnissen führt.

Zurückfinden: Aus der Perspektive des Publikums meist ein mentaler Vorgang, ist hier eine sehr konkrete, etwas umständliche Bewegung, wieder durch Gras, Gestrüpp, Wildwuchs. Vielleicht in Gesellschaft, vielleicht alleine, in der Vermutung, dass alle, wirklich alle, die sich parallel den Abhang entlang und an verschiedenen Hindernissen vorbei arbeiten, einen besseren Weg gefunden haben. Die Lichter der Bar sind dann aber schon in Sichtweite.


BONES and STONES in the landscape, claudia bosse, symposion lindabrunn, 2023, photo: markus gradwohl
Formation
Interessant, auch: dass Bones and Stones auf diese Weise das Prinzip der Formation bis zuletzt beibehält, am Ende im Modus der unbehaglichen Nähe. (Was geht am Rande des Blickfelds vor sich, und wer sind diejenigen, die zwei, vier, sechs Meter weiter im nächtlichen Park in ungefähr die gleiche Richtung streben?)

Im Prinzip besteht diese Aufführung aus Formationen, wie etliche Arbeiten von Claudia Bosse, in denen Körper in Räume, an Schnittstellen, in Sichtachsen und neben anderen Körpern positioniert werden, um daraus verschiedene Partituren zu entwickeln. (Der Name des Zyklus‘, zu dem auch diese Produktion gehört: „Poetik der Relationen.“) Auf der einen Seite erscheinen die Formationen benennbar: Bäume, Bauten, Skulpturen, Findlinge; dazwischen: Körper, Gesten, Objekte (primär eben: Bones and Stones); in der Peripherie: die Schaulustigen und irgendwo am unteren Rand des Parks die Fassade des Schlosses. Eine Choreographie mit immobilen und mit mobilen Elementen, deren Anordnungen sich fortlaufend verändern und in verschiedene Richtungen auseinanderlaufen, ohne dass zwischen Person und Objekt, Performerin und Besucherin, immobilen und mobilen Aktant:innen, je eine mimetische Beziehung hergestellt würde. Stein werden, Knochen werden etc. ist in Bones and Stones keine Option; Partizipation des Publikums auch nicht; ebenso wenig Interaktion, sofern es um mehr ginge als darum, sich im Umfeld der Performer:innen durch das Gelände zu bewegen und sie punktuell dicht (sehr dicht) heranrücken zu lassen.

Zugleich kann die Aufteilung in die Krise geraten: Was ist Knochen, was Stein? – Welche Steine sind importiert (aus Beständen und Schaukästen, die ggf. zu musealen Sammlungen gehören)? Welche sind Teil des Geländes, das hier begangen wird? – Weiter: was ist Partitur, was Improvisation, wie viel Eigensinn der Bewegung ist in einer Choreografie der Formationen erlaubt? – Gibt es eine Partitur für diejenigen, die nicht performen, für ihre direktionalen Bewegungen (vom Eingang des Parks über den sehr weiten Abhang zum Amphitheater, von dort wieder ins Gelände und aus dem Gelände zur Terrasse der Bar)? – Und eine für die Bewegungen, die idiosynkratisch motiviert sind? (Ständig, zu fast jedem Zeitpunkt, ist mindestens eine Person zu beobachten, die sich aus dem Umfeld der Performerinnen entfernt, um andere Orte innerhalb des Parks anzusteuern.)

Der Sound ist Teil der Formationen: nicht im Modus der Begleitung, sondern als ein Aktant für sich, der auftaucht und wieder verschwindet. In den Konstellationen des Abends figuriert die Komposition als eine weitere Skulptur; allerdings als eine, die nicht stabil oder klar konturiert ist, sondern sich, den Formationen vergleichbar, im Gelände ausbreitet, punktuell verdichtet, dann auseinanderläuft, um ein paar Moment später erneut eine Verdichtung zu erfahren, die kaum je dramatisch ist und nur gelegentlich suggestiv. Etwas ist im Gang, das ist die Prämisse, nach der die Gesten, Töne, Aktionen und Positionswechsel sich im Verlauf der zwei Stunden anordnen. Etwas arbeitet, an dem die Elemente dieser Partitur Anteil haben, und das sie zugleich nicht abbilden, sondern allenfalls anzeigen können, als Signal oder als Symptom, die für die Betrachterin opak bleiben.


BONES and STONES in the landscape, claudia bosse, symposion lindabrunn, 2023, photo: eva würdinger
Relikte
Opazität: des Skripts, der Setzungen, auch: der Geschichten und Vorgeschichten, die den Formationen innerhalb des Geländes eingeschrieben sind. Das Symposion Lindabrunn, so ist im online publizierten „mission statement“ nachzulesen, wird 1967 als eine Veranstaltung für Steinbildhauer gegründet, die Zeugnisse dieser Steinbildhauerei sind überall im Gelände verteilt: figurativ, abstrakt, in kleinen und in ziemlich überdimensionierten Formaten, manchmal ziseliert wie eine Arbeit des Japaners Takera Narita (1968), archaisierend wie die Skulptur von Oskar Höflinger aus demselben Jahr oder die von Fumihiko Takashima (1972), immer wieder auch architektural wie „Die Mauer“, gestapelt und geschichtet 1979 als Land-Art-Objekt.

Deutlicher als diese Zuschreibungen: architektural, abstrakt, ziseliert … tritt in der Partitur von Bones and Stones eine weitere Eigenschaft der grauen Skulpturen in den Vordergrund. In vielen Fällen, nicht in allen, könnte es sich auch um die porösen Relikte riesenhafter Organismen handeln, um Gelenke, Rippen, Knochen, die, anders als andere Relikte, nicht im Museum, sondern in diesem Park gelagert werden; gelagert und drapiert, um neben der Form auch die Verwitterung zur Schau zu stellen. Dabei bedeutet Verwitterung nicht Zerfall. Der etwas gesuchten Archaik, die viele skulpturale Arbeiten auf dem Gelände des Parks kennzeichnet, ist der Anspruch implizit, dass das, was dort steht, auch in 100 Jahren noch an dieser Stelle stehen und in 100 Jahren erst recht so aussehen wird, als sei es bereits vor sehr langer Zeit dort hingestellt worden. Vorzeit, wenn man so will; eine halluzinierte Prähistorie, deren Restbestände als lose Sammlung zwischen organischer und anorganischer Materie erscheinen. Das Dispositiv der Stones and Bones (Stones as Bones) ist im Park von Lindabrunn präsent, lange bevor dieser durch die gleichnamige Performance erschlossen wird.

Mit der Performance werden die Parameter erweitert. Neben den Großformaten der Skulpturen die kleineren und ganz kleinen der Knochen und Steine, die aus verschiedenen Archiven und Museen in den Park verbracht worden sind. Neben den statischen Formationen die beweglichen. Neben den sehr maskulinen Arbeiten (Stein und Beton), die als Relikte aus dreißig Jahren modernistische Bildhauerei in Lindabrunn verbleiben, die Körper der Performerinnen, alle weiblich zu lesen und alle fast unbekleidet im Gelände unterwegs. Neben der extremen longue durée jener Verwitterung, der die Skulpturen, Steine, Knochen ausgesetzt sind, die relative courte durée eines Lebensalters, das hier in den Alterstufen von etwa 25, 30, 35, 40, 60, 70 Jahren abgesteckt wird. Zeit, das wäre mit Blick auf diese Performance festzuhalten, ist ein Ablauf, der in den Formationen und Relikten von Bones and Stones in unterschiedlichem Tempo gezählt wird.

Die Mänaden
Nirgendwo schneller als in den Körpern der Performerinnen, deren Bewegungen in der Partitur des Abends als Zeitmaß und als Zeitanzeige figurieren. Was nicht bedeutet, dass ihre Bewegungen sich getaktet, einheitlich oder entlang derselben Zeitachse vollziehen würden. Tatsächlich ist Bones and Stones jenes etwas unheimliche Spektakel, in dem sechs Körper zugleich gemeinsam und vereinzelt über ein Gelände (andernorts: über eine Bühne) gesteuert werden: alle wie unter einem Bann, aber nicht alle auf dieselbe Spur gesetzt oder von denselben Impulsen bestimmt.

Stattdessen ist ihr Verhalten unvorhersehbar. Hier und da, ab und an, zeigen sich die Gänge und Gesten aufeinander abgestimmt, präzise koordiniert, von einer klaren Absprache bestimmt. Andernorts gestalten sie sich disruptiv, etwa wenn ein Körper aus der Formation ausbricht oder keine Anstalten macht, in diese einzutreten; wenn Bewegungen sich vereinzeln und verzweigen; wenn das Handling des jeweiligen Objekts (Stein, Knochen, Werkzeug) wichtiger wird als alles, was gerade in der Peripherie von Körper und Objekt geschieht; wenn eine Handlung sich wiederholt oder beschleunigt, oder wenn sie sich bis zur Unbeweglichkeit verlangsamt, was in den Mikro-Tableaus von Bones and Stones mehr als einmal zu beobachten ist.

Besessenheit könnte ein Stichwort sein, um diesen Modus des Handelns zu beschreiben. In den Bewegungen und Szenarien, die sich an diesem Abend im Park von Lindabrunn verteilen, ist Besessenheit in mehr als einer Variante gegenwärtig: als Trance, Taumel, Fixierung, Channeling … – was letztlich bedeutet, dass in den Körpern, die hier der Beobachtung ausgesetzt sind, in jedem Moment eine Einwirkung am Werk scheint, die dem Blick von außen unzugänglich bleibt. Sie findet statt, aber sie wird nicht erklärt; sie setzt sich fort, aber sie überträgt sich nicht; sie artikuliert sich, aber das bedeutet nicht, dass sie verständlich wäre oder zu dechiffrieren oder aber teilbar in den Formen der Partizipation, mit denen in anderen Performances gearbeitet wird.


BONES and STONES in the landscape, claudia bosse, symposion lindabrunn, 2023, photo: eva würdinger

Stefanie Diekmann, Film- und Medienwissenschaftlerin, Professorin an der Stiftung Universität Hildesheim, Gastprofessorin u.a. in Austin, Paris, Marseille, Louvain. Forscht zu intermedialen Konstellationen, Dokumentarfilm, Interviews und neuerdings zu Nebenfiguren. Ein Band zur gleichnamigen DFG-Tagung erscheint 2024 bei Theater der Zeit, Berlin. Darüber hinaus zahlreiche Publikationen zu Film, Fotografie, Theater, Comics und gelegentlich Film- oder Ausstellungskritiken.

www.theatercombinat.com theatrale produktion und rezeption